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Musikalische Analyse der Walliser Alpen bis Mont Blanc

 

Ställe

 

Vorsichtsmassnahme - Geschichte - Formtheorie - Formziel - Empirie - Ruinöse Theorie

 

Vorsichtsmassnahme: Die Form des philosophischen Denkens bleibt so lange nötig, als die Idee der Gesellschaft nicht verwirklicht wird. Sie steht in einem solcherart besonderen Verhältnis zu den anderen Formen des tätigen Denkens wie denen der Disziplinen, der Politik, der Ökonomie, der Lebenswelt und der Intimität, das direkte Ableitungen zu denselben verhindert; das negative Verhältnis als Bruch zwischen ihr und ihnen wäre in einer durchgehend anerkannten Gesellschaft, die selbstredend keineswegs in der Nähe einer Perfektion zu denken wäre, kaum spürbar, die Ideen der Philosophie immer zugleich auch politisch, wissenschaftlich, künstlerisch und existentiell. Weil die gesellschaftlichen Denkformen in keinem Zusammenhang zu einer gelungenen Praxis stehen, steht die philosophische, statt überwunden und in jene vermittelt aufgehoben zu sein, neben ihnen, um auf sie, wie immer auch hilflos, Einfluss zu nehmen. Dieses Besondere des philosophischen Textgebildes wäre indes nicht in einer Auszeichnung zu sehen, die es über andere stellen würde, sondern in einer gewissen Verlegenheit, in der es entstanden ist und die zuinnerst mit der Gesellschaft korrespondiert, die sich Klarheit und klare Verhältnisse noch nicht leisten will. Es gibt die Philosophie noch, weil etwas falsch ist im Ganzen. Allerdings hat ihr Medium, der Begriff, nicht unbeschadet überlebt. Sowohl fehlt ihm der Adressat, für den er sich in der Rede entfalten wollte, als auch die Durchsichtigkeit einer Gesellschaft, in der er Ansprüche erheben könnte. Vielmehr erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass eines seiner Antonyme für die Verwirklichung der Idee des Begriffs - Freiheit - nötig wird, das Bild, das doch als Statthalter der Kulturindustrie steht, wo zweifelsohne die Fähigkeit zur Begriffsentzifferung nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Der Ton einer solchen philosophischen Tätigkeit, deren Absetzung vom konkret Gesellschaftlichen ohne wahrnehmbare Grenze passiert, ist alles andere als triumphierend, sondern, auch als neue, im vorhinein abgedämpft. Ihre Materialien, die Bilder, können schadlos auch ganz anders betrachtet werden.

Geschichte: Der reine Begriff ist ans System gebunden, an eine historisch zwar nur kurz vorherrschende, vom Gehalt her aber entscheidende Zeit der Philosophie. Mangels günstiger Aufzeichnungsmaterialien waren vorher die Bilder in der Nähe und im Umfeld des Begriffs eher bildhafte Geschichten als wirkliche Bilder, obwohl sie als Bestandteile der neuzeitlichen Texte - oder wenigstens in ihren handschriftlichen Vorarbeiten - dem Anspruch nach durchaus einen bedeutsamen Platz zu erobern schienen.

 

G. W. Leibniz Strumpfknoten
Leibniz betont die Notwendigkeit der Existenz nicht durchgängig bewusster Wissensmomente, wenn ein Knoten gezogen werden soll -
nicht sie selbst, aber ihre Wirkungen müssen kontrolliert werden.
Die nachfolgende Systemphilosophie behandelt sie so, als ob sie jederzeit bewusst gemacht werden könnten.
(Bearbeitete Google-Books-Kopie aus Horst Bredekamp, Die Fenster der Monade - Gottfried Wilhelm Leibniz' Theater der Natur und Kunst, Aufbau 2008, Seite 13
Niedersächsische Landesbibliothek LH, IV, 7C, 120r.)

Nur in der Systemphilosophie des Deutschen Idealismus waren die Bilder verpönt und war ihnen die Ernsthaftigkeit abgesprochen worden, weil der philosophische Begriff vom Anspruch lebte, das einzelne und die Teile entweder durchgängig bis zum Ganzen zu vermitteln oder sie an einer eindeutigen Stelle verorten zu können; je vertrackter das System dem Schein nach, desto eindeutiger und bedeutungsvoller die Stelle darin, die ein einzelner Begriff einnimmt. Nach Hegels Tod und dem Tod der Philosophie im ganzen vervielfältigt sich unverhofft das Philosophische in der akademischen Restitution als Hegelianismus und Kantianismus, in den antipodischen Kritiken des Begriffs als strapazierte, lügenhafte Metapher einerseits und als passive Gesellschaftsverklärung andererseits, in der minutiösen Auflösung des Begriffs durch Aufzeichnungen seiner phänomenalen Ereignisse und, daraus gegenläufig entstanden, der Situierung des Denkens in der Sprache überhaupt, wo weder das Ereignis, der Begriff noch das Bild ein zentrales Effektesystem darstellen. Gemäss dem Anwachsen und der Entfaltung der natur- und der geisteswissenschaftlichen Fachbereiche entwickelten sich die Hermeneutik, die sich um die philosophische Theorie wenig kümmert, und die Analytische Philosophie, die alle Ansprüche der Philosophie in ihren Teilen und Teilmomenten mit der schiefen Frage in die Enge treibt, ob das, wovon sie an bestimmten Stellen spricht, mit einer weltlichen Tatsache zu tun hat oder nicht. Da sie keine findet, ist die Art dieser wissenschaftlichen Philosophie selbst so vollkommen leer wie die Köpfe ihrer Wortführer und Hausierer.

Formtheorie: Am Ende dieser Epoche und am Anfang einer neuen, die sich nach 1945 mit allmählich stärker werdenden Verschiebungen entwickelt, steht die entscheidende Diskussion über Bild und Begriff zwischen Benjamin (gest. 1942) und Adorno. Die Gespräche selbst sind nur in der Form der Niederschläge ihrer Gehalte in den Briefen überliefert, die eine kaum je zwischen Intellektuellen geladene Spannung enthalten, nicht persönlicher Art - sie waren befreundet und in ihrem philosophischen Werdegang aufeinander angewiesen - aber in der Sache. Beide hatten einen üblen Patron, Klages, von dem sie sich noch nicht deutlich genug distanziert hatten, so dass er gleichwie die anderen Theoretiker Impulse verstärkte, die theoretisch noch nicht bewältigt waren. Will man die Positionen aus den Briefen herauslösen, kommt das dem Durchschlagen eines Gordischen Knotens gleich, der die Umstände und Zusammenhänge im Hintergrund vernachlässigt. Benjamin, der Dichter und Deuter der Passagengebilde von Paris, verteidigt das Bild als Moment der philosophischen Produktion ebenso stark wie Adorno, der Musiker und Deuter unzähliger musikalischer Werke und Aufführungen während mehr als zehn Jahren, seinerseits die Notwendigkeit des Begriffs und dass erst die begriffliche Deutung der Bilder im Zusammenhang der Begrifflichkeiten des wissenschaftlichen und allgemein kulturellen Fortschritts philosophisch zu nutzen wäre und aufklärerische Wirkung zeigen würde. Der Status des Begriffs überhaupt, gegen den alles gerichtet ist und auf den doch auch wieder alles hoffen muss, ist bei Adorno in einer Hinsicht identisch mit dem des Bildes und nicht anders als der des Kunstwerks: es hat Bestand auch ohne Deutung, aber es muss einen solchen besonderen Gehalt und eine solche Beschaffenheit aufweisen, dass die Herausforderung spürbar wird, es begrifflich deuten zu wollen. Ein einzelner Bergriff ohne einen zusätzlichen ist gleichwie ein Bild ohne Zusatz, sei es ein weiteres Bild oder eine Begriffskonstellation, ohne Geltungsanspruch.

Formziel: Der einzelne Stall sagt und zeigt nichts, und gleichwie die einzelne Alp. Gelegen sind sie alle am äussersten Rand der Gesellschaft, da, wo sie daran ist, in die Natur überzugehen und wo, je nach Berghöhe, die Gletscherzone beginnt, das äusserste Negative der Gesellschaft, nicht nur feindlich durch die Witterung wie in den nordischen, sondern auch wegen ihrer Durchsetzung mit unübersichtlichen und unberechenbaren Spalten. Wenn die einzelnen Ställe und Alpen etwas zeigen sollen, das übers normale Sprechen hinausgeht, etwas Besonderes ausserhalb der aktuell relevanten Allgemeinbegriffe, dann nur im Zusammenhang eines Ganzen.

Ecuries du Crêt, 21. August 2010, retouchiert.
Nur weil es kein System gab, das man hätte befolgen müssen, war die Wirtschaft im alten Wallis erfolgreich.
Einzigartige Konstruktion eines Güllenbisse, der die Abflüsse des einen Stalls zum unteren führte,
aus dessen hinterem Ausgang sie erst auf die Alp zu den bereits deponierten Alpentörtchen geführt wurden.
Diese Alp hat die zusätzliche Besonderheit, dass ihre Gebäude zu hundert Prozent aus Steinplatten gebaut waren, ohne Holzbalken in der Dachkonstruktion.

Der Kanton Wallis weist eine ideale Abgeschlossenheit auf ohne diffuse Übergänge in eine andere Gegend, eine ideale Topografie, die eine sehr grosse Anzahl von Alpwirtschaften mit Grossviehbestossung möglich macht, und er hat eine ideale Grösse. Ende 2010 waren alle Alpen, die im zwanzigsten Jahrhundert bestossen wurden, fotografisch festgehalten, sei es von ganz nahe oder etwas weiter entfernt. Die Einsichtnahme fehlte nur in wenige südlich von Bourg St-Pierre, weil der Spätherbstschnee zu früh und zu heftig eintraf und die geplante Wanderarbeit in der letzten Tauperiode von Bourg St-Pierre nach Tsousse wegen der Nordlage des Weges, die Schnee und Eis nicht mehr schmelzen liess, nicht mehr geleistet werden konnte; die Alpen von Valsorey, also Cordonna mit ihren Oberalpen, Tsalevey, La Pierre bei Bourg St-Bernard sowie die vom Combe des Planards und vom Combe de l'A, also Vouasse und La Tsissette, fehlen - dazu einige aus Unachtsamkeit oder weil ihre unscharfe Abgrenzung ins Gebiet der Schaf- und Ziegenalpen mir bei der jeweiligen Planung die Routenwahl störten. Dass man nicht sagen kann, es seien alle Walliser Alpen hier vereint, tut keinen Schaden, weil eine empirische Totalität sowieso nur von dem ablenkt, was denn eigentlich zur Sprache kommen soll. Der wissenschaftliche Blick der traditionellen Soziologin, des Volkskundlers und des Agronomen sowie derjenige des Alltagsmenschen zögert nicht, in diesem grossen Ganzen eine Typologie aufzusuchen, geordnet nach den Gebieten des Oberwallis, des Unterwallis und des Chablais einerseits, den ihnen weitgehend entsprechenden Dorftypen andererseits, sowie, supplementär, nach gewissen Traditions- und Stiltypen, die einzelne Täler wie das Lötschental oder das Val d'Anniviers auf besondere Weise strukturieren mögen. Hat man das ganze Wallis im Augenschein und nimmt sukzessive alle Alpen in den Blick, ohne der unruhigen empirischen Typologie weiter Beachtung zu schenken, zeigt sich eine Besonderheit, die eine gewichtige Voraussetzung, wie sie von den traditionellen Untersuchungsdisziplinen gemacht wird, ausser Kraft setzt. Da die Konfrontation der Natur mit der Gesellschaft, die ums Überleben kämpft, hart und lückenlos verbissen erscheint, und nicht im geringsten idyllisch, folgt die Aufmerksamkeit in diesem Ensemble von Bildern weniger dem, was bloss ist, sondern auch allem bloss Möglichen und dessen Verhinderung, dem zähen Spiel also von Behauptung und Rückzug, von Scheitern und Durchsetzung. Es zeigt sich in den Bildern als objektive Notwendigkeit, was begrifflich nur schwach verständlich würde, dass hier keine Systeme anerkannt wurden, deren Befolgung zum Erfolg führten, kein System der Natur, das verlässliches Wissen in einem empirischen, "weltlichen" Zusammenhang erlauben würde, keine Ökonomie, die einen geregelten Umgang der Akteure untereinander empfehlen und keine Technik, die Arbeitsziele mit Erfolg belohnen würde. Nicht trotz des Mangels an System hat das alte Wallis überlebt, sondern weil ihm nicht blind vertraut wurde und alle Anpassungen an die schwierige Natur ernster genommen wurden als seine Lockungen der Bequemlichkeit. Dem System zu misstrauen erscheint hier als eine Errungenschaft, der man nicht ungestraft verlustig geht.

Empirie: In den Jahren 1900 und definitiver 1920 wurde im Schweizer Parlament in Bern besprochen und geregelt, wie im Kanton Wallis die landwirtschaftliche Produktion und darin als Teilprobleme die Gesundheit der Kühe und die Qualität der Käse zu verbessern wären, unter anderem durch einzelne Schaukäsereien, die den Sennen im Frühsommer den Vorgang der Milchverarbeitung erklären sollen, und auf solchen Alpen durch den Bau von Ställen, wo noch gar keine waren, alte zu klein oder schon im Zustand des Verfalls. Vielenorts gab es zwar Hütten für die Sennen und zur Lagerung der Käse, das Grossvieh war aber der Witterung schutzlos ausgesetzt und dementsprechend anfällig für Krankheiten und Unfälle. Die neu gebauten Ställe sind leicht erkennbar, da sie allein den Kriterien der Effizienz genügten, wie sie Otto Huber bis weit in die Sechzigerjahre hinein auf riesigem Planpapier befolgte und so ästhetisch auf ein Kleinstes eingestellt die Pläne in dünner und dicker Tusche mit und ohne Schablonen zeichnete, die ich, spät, in stolzer Enkelarbeit auf der Schulter vom Paradis durch die ganze Sonnenstadt Sierre zum Kopisten in die Heliographie trug, kaum grösser als die Rohre selbst, und ein paar Tage danach von dort, verdoppelt, dem Geometer zurückbrachte, im übrigen nicht selten mit einem Ausschnitt aus einer 25'000er Karte versehen, die deshalb teilweise nur noch durchlöchert weiter vererbt wurden und dadurch in einem Paradox den Entdeckungsstrom für die Alpen eher unterdrückten statt antrieben: erst 2008, über zehn Jahre nach Beginn des kontinuierlichen Fotografierens im Wallis, dämmerte die Einsicht, dass ich ständig auf den alten Arbeitsflecken des Grossvaters tätig war und es möglicherweise keines grossen zusätzlichen Aufwandes bedürfe, alle Walliser Alpen zusammenzustellen. Der Kultur- oder Kantonsingenieur erschien mir im übrigen nie als Stallbauer oder Alpenarchitekt, sondern als Wassermann, der Reservoirs baute, aber auch schon mal, und nicht ohne neu entfachte Hitze im Kopf, die den Spott nicht scheute, vom Kampf auf der Wasserleite gegen einen Unbotmässigen erzählte - mich dünkt, im Stillen dann auf der Seite des anderen gewesen zu sein.

Ruinöse Theorie: Was auf der langen Strecke von Gletsch am Furkapass bis St-Gingolph am Genfersee wahrzunehmen wäre, ist wenig, und es wäre kaum ein ernster falscher erster Anschein, bloss eine Lumpensammlung mit einer hineingeheimnisten Theorie zu sehen. Denn eine Notwendigkeit, dieser Sammlung von Bildern nur theoretisch zu begegnen, besteht nicht. Aber es regt sich etwas in ihr, und es korrespondiert nur zu offenbar mit einem Problem, das die gegenwärtigen Gesellschaften hindert, ohne entscheidende Eingriffe und Veränderungen im Innersten weiter zu machen. Man weiss nicht, wo beginnen, wenn man vom Falschen im Ganzen reden soll. Es gibt einige Katastrophen, die erst gerade geschehen sind, weitere, die am Geschehen sind und unzählige, die zu geschehen drohen - und es sind nicht Katastrophen, die aus der Natur selbst heraus geschehen würden, in denen sie sich gegen sich selbst wendet und zerstört. Sie haben Namen, die an einen Ort und auf einen Konzern verweisen, durch dessen sogenannt ökonomisches Handeln sie ausgelöst wurden. Das scheint durchwegs tadellos, weil es die Gesetze und Regeln befolgt hat und keine Techniken verwendet worden wären, die hinter den aktuellen und aktuell anerkannten Standards gewesen wären. Die unaufhörlich wiederholten und in scheinbar naivem Ton vorgetragenen Rechfertigungen enthalten das Katastrophische immer schon ungewollt, in dem die Gesamtgesellschaft steckt, dass sie gleichförmig und dumpf in alle Systeme vertraut, in das der Naturwissenschaften, der aus ihnen abgeleiteten Techniken und Technologien und das der Ökonomie. Sie hat sich immer noch keinen Raum und keinen Platz oder Stelle verschafft, von wo die Effekte aller Systeme kontrolliert werden könnten. Weil sie nicht geschlossen sind, sind ihre Teile und Strukturmomente nicht durchgängig unter Kontrolle zu halten; um so mehr bedarf es des Äussersten an Kontrolle, wo ihre Effekte genutzt werden und zum Zuge kommen. Das wäre aus der Bilderserie herauszulesen. Weil es aber kein Kontinuum zwischen der empirischen Welt der Ruinen bis zum nötigen Formniveau der Politik gibt, das die Konzerne in Pflicht zu nehmen vermöchte, sind die Auseinandersetzungen mit den Ställen blosses ästhetisches Verfallsprodukt. Es nützt nichts, wenn sich die BürgerInnen und Bürger verändern, solange die Instanzen nicht greifen, die eine Kontrollpolitik gegenüber den Konzernen festigen könnten. Das Neue ist von Anfang an ein veraltetes Bemühen und folgt einer Ruinenlogik, weil es darauf ankommt, die Konzerne in Pflicht zu nehmen, die Theorie aber nur ihrem alten Trotzdem zu folgen vermag, das aufs Bewusstein wirken soll. Nicht weil der Gegenstand der Ställe abseitig wäre, ist die Theorie ruinös, sondern weil keine Hoffnung besteht, dass die Kontrollen über die Konzerne endlich eingeführt und zum Tragen kämen, solange das materielle Steuerungs- und Schmiermittel der Ökonomie zugleich den obersten ideellen Wert der Politik darstellt.

 

 

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