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Ulrich Beck

Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Gesellschaft, Frankfurt am Main 1986

Ulrich Beck, Die „Individualisierungsdebatte“, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.), Soziologie in Deutschland. Entwicklung – Institutionalisierung und Berufsfelder – Theoretische Kontroversen, Opladen 1995

 

Die Soziologie Ulrich Becks wird zur Hauptsache von drei Begriffen getragen, dem des Risikos, dem der Individualisierung und dem der Moderne.

In der Form der Risikogesellschaft konkurriert der erste mit dem Begriff der kapitalistischen Gesellschaft. Das heißt, dass die Soziologie Becks auf irgendeine Weise diejenigen Theorien und Konzepte als überaltert begreift, in deren Zentrum der Begriff des Kapitals (und damit zugleich: des Tauschs) figuriert.

Der Begriff, das Konzept oder die Hypothese der Individualisierung zielt auf die seit je schon problematischen Begriffe der Klassen und der Schichten (problematisch waren sie wegen der Differenz von Klassenlage und Klassenbewusstsein). Zur Vorbeugung von Missverständnissen sei an dieser Stelle schon gesagt, dass er beinahe nichts mit dem Begriff des lustig-bunten Individualismus zu tun hat, um so mehr mit dem der vogelfrei, also ratlos machenden Vereinzelung.

Ziemlich heikel ist der Begriff der Modernisierung beziehungsweise der Moderne. Denn entliehen worden ist er der Geschichte der Kunst, der Literatur und der Musik, wo er besetzt war – eben in bereits vergangener Zeit – mit den Namen Picasso, Joyce und Schönberg. Aus diesem Bedeutungszusammenhang wurde er in den Bereich der Gesellschaft überhaupt transferiert. Seine Funktion ist es hier, das zu kitten, was die Begriffe des Risikos und der Individualisierung offen lassen, oder, anders gesagt, was sie an den Deutungskategorien Kapitalismus und Klassengesellschaft nicht restlos zu kritisieren vermögen. (Obwohl dieser Begriff aus einem fremden Gebiet importiert worden ist, sieht man ihm das wegen des inflationären Gebrauchs nicht mehr an; er wird heutzutage nurmehr in der Beckschen Form gebraucht, und zwar gänzlich affirmativ als Ausdruck einer reflexiven Gesellschaft, in der die Reflexion quasi spielerisch noch zum Problem gemacht werden kann.)

Das klingt ganz danach, als hätte man es bei Beck mit einem Apologeten der Neuen Freien Marktwirtschaft zu tun. Dass dem nicht unbedingt so ist, will nachstehende Darstellung bezeugen, indem sie sich aufs Problem der Arbeitslosigkeit konzentriert.

Vielleicht müsste noch eine Erklärung hinzugefügt werden, wodurch es denn überhaupt möglich ist, dass in einem Theoriebereich wie demjenigen der Gesellschaftstheorie einmal die einen Begriffe zentral sind (Kapital und Klasse), einmal andere (Risiko, Moderne und Individualisierung), ohne dass ihr idersprüchliches Verhältnis bis zu einer Entscheidung in der Form entweder–oder getrieben werden könnte. Ist die Theorie denn ein so labiles und unverbindliches Gebilde, dass in ihr ohne Einspruch alles behauptet werden kann? Nein. Die Antwort liegt in einer Frage, die auch in der Rezension über Gorz gestreift wird, wie denn das Verhältnis der Lebenswelt zum System zu begreifen sei. Wie auch immer man dazu Stellung nimmt – das eine lässt sich nicht restlos im anderen fundieren. So wie Kapital und Klasse Kategorien des Systems sind, entstammen die Begriffe Risiko und Individualisierung hauptsächlich der Analyse der Lebensweltzusammenhänge. Wie dieses „Entstammen“ aber funktioniert, muss der Darstellung selbst entnommen werden. Denn, nochmals: das Verhältnis System–Lebenswelt lässt sich objektiv nicht abschlusshaft begreifen – es bildet eine Grenze der begrifflichen Idealisierung.

 

Das allgemeine Risiko in der modernen Gesellschaft

Was ein Risiko ist, kennt man aus der Lektüre der Zeitungsseiten, die früher unter der Rubrik „Unfälle und Verbrechen“ standen. Und Verbrechen. Das Ereignis, das in einer schlecht verlaufenen Risikolage eintrifft, kann also auch durch eine soziale Handlungssituation ausgelöst werden, nicht ausschließlich durch technische Unvollkommenheiten oder Naturkatastrophen.

An jeweils beides, Technik und Gesellschaft, Natur und Gesellschaft, hat man zu denken, wenn von einer Häufung des Risikos in den letzten Jahrzehnten die Rede ist. So lautet die These von Beck, dass diese Häufung sosehr zugenommen hat, dass sie in ihrem Wirkungsverhältnis bezüglich der Gesellschaftsstruktur mit demjenigen des Reichtums konkurriert (mit dem Ausdruck Wirkungsverhältnis wird noch offengelassen, ob die Risikohäufung auf die Gesellschaftsform einwirkt oder diese die Risiken verursacht): „Systematisch argumentiert, beginnen sich gesellschaftsgeschichtlich früher oder später in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen die sozialen Lagen und Konflikte einer ‘reichtumsverteilenden’ mit denen einer ‘risikoverteilenden’ Gesellschaft zu überschneiden. In der Bundesrepublik stehen wir – das ist meine These – spätestens seit den siebziger Jahren am Beginn dieses Übergangs. Das heißt: hier überlagern sich beide Arten von Themen und Konflikten. Wir leben noch nicht in einer Risikogesellschaft, aber auch nicht mehr nur in Verteilungskonflikten der Mangelgesellschaften. In dem Masse, in dem dieser Übergang vollzogen wird, kommt es dann wirklich zu einem Gesellschaftswandel, der aus den bisherigen Kategorien und Bahnen des Denkens und Handelns herausführt.“ (Beck 1986, 27)

Die Risiken haben eine bestimmte Qualität, die Beck in Zusammenhang dessen bringt, was er Modernisierung nennt. „(Die) Modernisierungsrisiken (treten) zugleich ortspezifisch und unspezifisch universell auf, und (die verschlungenen Wege ihrer Schadens-Einwirkung sind) unberechenbar, unvorhersehbar. In Modernisierungsrisiken wird also inhaltlich-sachlich, räumlich und zeitlich Auseinanderliegendes kausal zusammengezogen und damit im übrigen zugleich in einen sozialen und rechtlichen Verantwortungszusammenhang gebracht. Kausalitätsvermutungen entziehen sich aber – wie wir spätestens seit Hume wissen – prinzipiell der Wahrnehmung. Sie sind Theorie. Sie müssen immer hinzugedacht, als wahr unterstellt, geglaubt werden. Auch in diesem Sinn sind Risiken unsichtbar. Die unterstellte Kausalität bleibt immer mehr oder weniger unsicher und vorläufig. In dieser Bedeutung handelt es sich auch beim alltäglichen Risikobewusstsein um ein theoretisches und damit um ein verwissenschaftlichtes Bewusstsein.“ (Beck 1986, 36f)

Das neue Verhältnis von Alltags- und Wissenschaftsbewusstein beschreibt Beck auch so: „(Es) finden die Forschungen der Risikoforscher (…) auch in Küche, Wein- und Teestuben aller statt. Jede ihrer zentralen Wissensentscheidungen lässt sozusagen – wenn man die ganze Arbeitsteiligkeit einmal kurzschließt – den Giftpegel im Blut der Bevölkerung hoch- oder runterschnellen. In Gefährdungslagen sind also – anders als in Klassenlagen – Lebenslagen und Wissensproduktion direkt ineinander verschoben und verschränkt.“ (Beck 1986, 72)

Da die Risiken nicht wie bei frechen Bergtouren ohne weiteres sichtbar sind, ist das Bewusstsein von ihnen bedeutsam. Es ist soviel theoretisch, wie es gerade nicht mehr eines ist, das nur in den Wissenschaften erscheint, das heißt in den Köpfen allein der WissenschaftlerInnen: „In Risikodefinitionen wird das Rationalitätsmonopol der Wissenschaften gebrochen. Es gibt immer konkurrierende und konflikthafte Ansprüche, Interessen und Gesichtspunkte der verschiedenen Modernisierungsakteure und Betroffenengruppen, die in Risikodefinitionen im Sinne von Ursache und Wirkung, Urheber und Geschädigten zusammengezwungen werden.“ (Beck 1986, 38)

Das Aufstöbern von Risiken kann dann sehr weit gehen: „Im Grunde genommen kann man zumindest versuchsweise alles mit allem in Beziehung setzen, solange eben das Grundmuster – Modernisierung als Ursache, Schädigung als Nebenfolge – eingehalten wird.“ (Beck 1986, 41)

Zu den Effekten der Risiken gehört nicht nur eine diffuse, durch Angst geprägte Bewusstseinslage, sondern individuelle, gruppenspezifische und gesamtgesellschaftliche Aktivitäten beziehungsweise die Planung von solchen. „Wir werden heute aktiv, um die Probleme oder Krisen von morgen und übermorgen zu verhindern, abzumildern, Vorsorge zu leisten – oder eben gerade nicht. In Modellrechnungen ‘prognostizierte’ Arbeitsmarktengpässe wirken unmittelbar auf das Bildungsverhalten zurück; antizipierte, drohende Arbeitslosigkeit ist eine wesentliche Determinante der gegenwärtigen Lebenslage und Lebensbefindlichkeit; die prognostizierte Zerstörung der Umwelt und die atomare Bedrohung versetzen eine Gesellschaft in Unruhe und vermögen große Teile der jungen Generation auf die Strasse zu treiben.“ (Beck 1986, 45)

Wer aber ist nun betroffen? Offenbar gibt es zwei Tendenzen, die eine, die sämtliche Klassenschranken einreißt, weil vor diesen Risiken alle Menschen gleich sind, die andere, die die Klassengesellschaft reproduziert, immer wieder neuschafft: „Art, Muster und Medien der Verteilung von Risiken unterscheiden sich systematisch von denen der Reichtumsverteilung. Das schließt nicht aus, dass viele Risiken schicht- oder klassenspezifisch verteilt sind. In diesem Sinne gibt es breite Überlappungszonen zwischen der Klassen- und der Risikogesellschaft. Die Geschichte der Risikoverteilung zeigt, dass diese sich wie Reichtümer an das Klassenschema halten – nur umgekehrt: Reichtümer sammeln sich oben, Risiken unten.“ (Beck 1986, 46)

Nicht zuletzt soll dies das Risiko der Arbeitslosigkeit betreffen: „Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist gegenwärtig für Ungelernte erheblich höher als für Hochqualifizierte.“ (ebd.)

Wer betroffen ist, soll sich wehren können. Daraus entstehen soziale Konflikte. Doch wo genau sind ihre Ursachen festzumachen, wenn doch die Ursachen der Risiken so wenig eindeutig sind? „Die Konflikte, die um Modernisierungsrisiken entstehen, entzünden sich an systematischen Ursachen, die zusammenfallen mit dem Motor von Fortschritt und Gewinn. Sie beziehen sich auf das Ausmaß und die Ausdehnung von Gefährdungen und daraus erwachsenden Ansprüchen auf Entschädigung und/oder prinzipieller Kursänderung. In ihnen geht es um die Frage, ob wir weiterhin einen Raubbau an der Natur (der eigenen eingeschlossen) betreiben können und damit, ob unsere Begriffe ‘Fortschritt’, ‘Wohlstand’, wirtschaftliches Wachstum’, ‘wissenschaftliche Rationalität’ noch stimmen. In diesem Sinne nehmen die Konflikte, die hier ausbrechen, den Charakter von zivilisatorischen Glaubenskämpfen um den richtigen Weg der Moderne an. Diese ähneln in manchem den religiösen Glaubenskämpfen des Mittelalters eher als den Klassenkonflikten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.“ (Beck 1986, 53)

Nun schwankt Beck in seinen Beschreibungen zwischen den zwei Tendenzen. Einerseits „(gibt es) eine systematische ‘Anziehungskraft’ zwischen extremer Armut und extremen Risiken. Auf dem Verschiebebahnhof der Risikoverteilung erfreuen sich Stationen in ‘unterentwickelten Provinznestern’ besonderer Beliebtheit.“ (Beck 1986, 55) Zugleich besteht im sozial abgewerteten Raum, will heißen an den Orten, sofern man sie nach sozialen Kategorien klassifiziert, und zwar schlecht, der Hang, dass „der Teufel des Hungers mit dem Beelzebub der Risikopotenzierung bekämpft (wird).“ (Beck 1986, 56) Andererseits betont er, wie die Risiken eben allgemein, transklassitär wirken. Allerdings ist dies eine besondere Allgemeinheit, die nämlich keineswegs dazu führt, „dass angesichts wachsender Zivilisationsrisiken die große Harmonie ausbricht. Gerade im Umgang mit Risiken ergeben sich vielfältige neue soziale Differenzierungen und Konflikte.“ (Beck 1986, 61)

Das geht weit. Und zwar so weit, dass das Risiko in der Weise negativ wirkt, dass es weit mehr noch verheerend begriffen werden muss als die soziale Klassenstruktur: „Risikogesellschaften sind keine Klassengesellschaften – das ist noch zu wenig. Sie enthalten in sich eine grenzensprengende, basisdemokratische Entwicklungsdynamik, durch die die Menschheit in der einheitlichen Lage zivilisatorischer Selbstgefährdung zusammengezwungen wird.“ (Beck 1986, 63) Später kommt die deutliche Formulierung: „Die Risikogesellschaft ist also keine revolutionäre Gesellschaft, sondern mehr als das: eine Katastrophengesellschaft. In ihr droht der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden.“ (Beck 1986, 105)

Doch zurück zur Beschreibung der Bewusstseinslage. Potenziert denn das Risikobewusstsein das Solidaritätsgefühl, wie es die Klassenstruktur häb chläp wenigstens produzierte? Natürlich nicht. „Dem politischen Subjekt der Klassengesellschaft – dem Proletariat – entspricht in der Risikogesellschaft nur die Betroffenheit aller durch mehr oder weniger greifbare Mammutgefahren. So etwas lässt sich immer leicht verdrängen. Dafür sind alle und niemand zuständig. Jeder im übrigen auch nur mit einem Bein. Mit dem anderen steht er im Kampf um seinen Arbeitsplatz (sein Einkommen, seine Familie, sein Häuschen, seine Autoliebhabereien, seine Ferienwünsche usw. Wenn das verloren geht, sitzt man – Gift hin, Gift her – in jedem Fall in der Tinte). Das verschärft die Fragen: Lassen sich ungreifbare Allbetroffenheiten überhaupt politisch organisieren? Sind ‘alle’ politisch subjektfähig? Wird nicht viel zu voreilig und leichtfertig von der Globalität der Gefährdungslage auf die Gemeinsamkeit eines politischen Willens und Handelns geschlossen? Sind Globalität und Allbetroffenheit nicht geradezu Anlässe, Problemlagen nicht oder versetzt wahrzunehmen, auf andere abzuwälzen? Sind das nicht Quellen, aus denen Sündenbock-Konstruktionen sich speisen?“ (Beck 1986, 65)

Doch die Gefahren sind alles andere als abstrakt, und Beck greift deswegen auf einen alten Begriff der Sozialkritik zurück: „Meine These lautet: Es handelt sich auch in der Risikogesellschaft um eine Form der Verelendung, die vergleichbar ist und doch auch wieder überhaupt nicht mit der Verelendung der Arbeitermassen in den Zentren der Frühindustrialisierung. (…) Beide Male handelt es sich um drastische und bedrohende Eingriffe in menschliche Lebensbedingungen.“ (Beck 1986, 67)

Und doch ist die Qualität der Risiken im Gegensatz zu derjenigen der Akkumulationsprozesse des Kapitals ja eine besondere, eine, die eben nicht abschlusshaft begriffen werden kann. Sie hat mit Fug etwas Gespenstisches, Flatterhaftes: „Es ist nie klar, ob sich die Risiken verschärft haben oder unser Blick für sie.“ (Beck 1986, 73)

Wie der Gespensterglaube, der in allen Gesellschaften anzutreffen ist, hat auch das Risikobewusstsein eine kaum recht zu eruierende menschliche Tiefendimension: „(Der) theoretische Grundzug des Risikobewusstseins ist von anthropologischer Bedeutung: Die Bedrohungen der Zivilisation lassen eine Art neues ‘Schattenreich’ entstehen, vergleichbar mit den Göttern und Dämonen der Frühzeit, das sich hinter der sichtbaren Welt verbirgt und das menschliche Leben auf dieser Erde gefährdet. Man korrespondiert heute nicht mehr mit den ‘Geistern’, die in den Dingen stecken, sondern sieht sich ‘Strahlungen’ ausgesetzt, schluckt ‘toxische Gehalte’ und wird bis in die Träume hinein von den Ängsten eines ‘atomaren Holocaust’ verfolgt. An die Stelle einer anthropomorphen Interpretation von Natur und Umwelt ist das moderne, zivilisatorische Risikobewusstsein mit seiner nicht wahrnehmbaren und doch überall präsenten Latenzkausalität getreten. Hinter den harmlosen Fassaden stecken gefährliche, feindliche Wirkstoffe. Alles muss doppelt gesehen, kann erst in dieser Doppelung richtig erfasst, beurteilt werden. Die Welt des Sichtbaren muss auf eine gedachte und doch in ihr versteckte zweite Wirklichkeit hin befragt, relativiert, bewertet werden. Die Maßstäbe der Bewertung liegen in dieser, nicht in der sichtbaren selbst. Wer die Dinge einfach gebraucht, so nimmt, wie sie ihm erscheinen, nur atmet, isst, ohne nach der toxischen Hintergrundwirklichkeit zu fragen, ist nicht nur naiv, er verkennt auch die ihn bedrohenden Gefährdungen und setzt sich diesen damit ungeschützt aus. Die Hingabe, der unmittelbare Genuss, das einfache So-Sein ist gebrochen. Überall kichern Schad- und Giftstoffe und treiben wie die Teufel im Mittelalter ihr Unwesen. Die Menschen sind ihnen fast ausweglos ausgeliefert. Atmen, essen, Wohnen, Kleiden – alles ist von ihnen durchsetzt. Wegreisen hilft letztlich ebenso wenig wie Müsli essen. Auch am Ankunftsort warten sie, und in den Körnern stecken sie. Sie sind – wie der Igel im Wettlauf mit dem Hasen – immer schon da. Ihre Unsichtbarkeit ist kein Beleg ihrer Nichtexistenz, sondern gibt (…) ihrem vermuteten Unwesen fast grenzenlosen Raum.“ (Beck 1986, 96f)

Die ontologische Verrücktheit des Risikos schlägt noch weitere Kapriolen. Da man nicht wissen kann, ob das Risiko wirklich besteht, ob es selbst gewachsen ist oder nur unser Bewusstein von ihm, kann die Verhaltensdisposition gänzlich unberechenbare Formen annehmen: „Gefährdungsbetroffenheit muss nicht in Bewusstwerdung der Gefährdung einmünden, kann auch das Gegenteil: Leugnung aus Angst provozieren. In dieser Möglichkeit, die Gefährdungsbetroffenheit selbst zu verdrängen, unterscheiden und überschneiden sich Reichtums- und Risikoverteilung: Den Hunger kann man durch Leugnung nicht stillen, Gefahren dagegen immer weginterpretieren (solange sie nicht eingetreten sind). In der Erfahrung der materiellen Not sind tatsächliche Betroffenheiten und subjektives Erleben, Erleiden unauflösbar eins. Nicht so bei Risiken. Für sie ist im Gegenteil charakteristisch, dass gerade Betroffenheit Nichtbewusstsein bedingen kann: Mit dem Ausmaß der Gefahr wächst die Wahrscheinlichkeit ihrer Leugnung, Verharmlosung.“ (Beck 1986, 100)

Doch das Uneindeutige ist nicht einfach Nebel, einfache Vernebelung des Bewusstsein. Es muss zur Sprache gebracht werden. Im Sprechen verschwindet es zwar nicht wie der Vampir knapp vor dem Morgenlicht, aber man kann Fragen stellen, durch was denn das Uneindeutige so uneindeutig erscheint. Dadurch können sowohl Splitter aus den Augen genommen werden wie Splitter davon, was denn durch soziale beziehungsweise politische Entscheide korrigierbar ist an den Risiken, herausgefunden werden: „In der Risikogesellschaft werden derart der Umgang mit Angst und Sicherheit biographisch und politisch zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation und die Ausbildung der damit angesprochenen Fähigkeiten zu einem wesentlichen Auftrag der pädagogischen Institutionen.“ (Beck 1986, 102)

Zum Schluss die Frage nach dem weiteren sozialgeschichtlichen Verlauf der Risikogesellschaft, die Frage nach der Prognose. Wenn es stimmt, dass nur schwer systematisch zwischen dem Risiko und dem Bewusstsein von ihm unterschieden werden kann – ist es nun nicht auch möglich, dass die Risikogesellschaft als eine des Bewusstseins von ihm ganz alleine sich verflüchtigt? Beck sieht dieses Problem realistisch: „Mag sein, dass wir am Anfang eines historischen Gewöhnungsprozesses stehen. Mag sein, dass schon die nächste Generation oder die übernächste sich über Bilder von missgebildeten Neugeborenen, wie sie heute von geschwulstübersäten Fischen und Vögeln um die Welt gehen, genauso wenig aufregt, wie dies heute angesichts verletzter Werte, neuer Armut und konstant hoher Massenarbeitslosigkeit der Fall ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass mit der Verletzung die Maßstäbe verloren gehen. Noch bleibt die begründete Vermutung, dass dies nicht so eintritt, dass im Gegenteil mit der industrialisierten Natur die Naturzerstörung als industrielle Selbstgefährdung universalisiert und wahrgenommen werden. (Worüber es auch im Interesse einer Professionalisierung von Kritik beileibe kein Frohlocken geben kann.)“ (Beck 1986, 111f)

 

Auswirkungen auf die Einzelnen: Die Individualisierungsthese

Gewichtiger noch als der Begriff der Risikogesellschaft ist die These von der allmählichen Individualisierung als der Destruierung vormals kollektiv geprägter gesellschaftlicher Vorgänge. Hierbei gilt es, äußerst vorsichtig die Wertungen der Begriffe Individualisierung, Destruierung und Kollektiv im Auge zu behalten. Fast nichts von unseren Vorurteilen will hier stimmen. Weder führt die Individualisierung zu einer Gesellschaft von Individualisten als Einzelmenschen mit einem starken Ich, noch löst die Destruktion Altes auf, so dass es nicht mehr da wäre, nicht mehr zur Verfügung stünde – noch darf das unter Kollektiv Verstandene nur negativ als eben ein solch Überaltetes begriffen werden. „Die Ausdifferenzierung von Individuallagen in der entwickelten Arbeitsmarktgesellschaft darf aber nicht mit gelungener Emanzipation gleichgesetzt werden. Individualisierung meint in diesem Sinne auch nicht den Anfang der Selbstschaffung der Welt aus dem wiederauferstandenen Individuum. Sie geht vielmehr einher mit Tendenzen der Institutionalisierung und Standardisierung von Lebenslagen. Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und damit bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung.“ (Beck 1986, 119)

Dabei ist es der Prozess der Modernisierung, der die Strukturen hervorrief, nach denen sich die einzelnen zu richten haben, wie auch die Individualisierung selbst: „An der Wende ins 21. Jahrhundert hat der entfachte Modernisierungsprozess nicht nur die Unterstellung einer der Gesellschaft gegenüberstehenden Natur überrollt, sondern auch das innergesellschaftliche Koordinatensystem der Industriegesellschaft brüchig werden lassen: ihr Wissenschafts- und Technikverständnis, die Achsen, zwischen denen das Leben der Menschen gespannt ist: Familie und Beruf, die Verteilung und Trennung von demokratisch legitimierter Politik und Subpolitik (im Sinne von Wirtschaft, Technik, Wissenschaft).“ (Beck 1986, 115)

Es geschieht dadurch zwar eine große Umgestaltung der Lebenszusammenhänge, doch die kapitalistische Wirtschaftsform selbst wird nicht tangiert. „Individualisierung läuft in diesem Sinne auf die Aufhebung der lebensweltlichen Grundlagen eines Denkens in traditionalen Kategorien von Großgruppengesellschaften hinaus – also sozialen Klassen, Ständen oder Schichten. (…) Wir stehen – marxistisch gedacht – mehr und mehr dem (noch unbegriffenen) Phänomen eines Kapitalismus ohne Klassen gegenüber mit allen damit verbundenen Strukturen und Problemen sozialer Ungleichheit. (…) Die breite Streuung mehr oder weniger vorübergehender Arbeitslosigkeit fällt also zusammen mit einer wachsenden Zahl von Dauerarbeitslosen und neuen Mischformen zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung. Dem entsprechen keine klassenkulturellen Lebenszusammenhänge. Verschärfung und Individualisierung sozialer Ungleichheiten greifen ineinander.“ (Beck 1986, 117)

Es bleibt sozusagen alles beim Alten, mit dem kleinen Unterschied, dass die gesellschaftlichen Forderungen beziehungsweise Herausforderungen das Individuum unvermittelt treffen, weil im Gesprächszusammenhang mit den näheren und weiteren Bezugspersonen das traditional Selbstverständliche keine Basis mehr abgibt, sondern bloß als Lächerlichkeit oder dann wenigstens ironisch gebrochen noch eine Rolle spielt. „In den enttraditionalisierten Lebensformen entsteht eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen werden können.“ (Beck 1986, 118) Und scharf in eine Formel gefasst: „Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.“ (Beck 1986, 119, mit buchstäblicher Wiederholung 209)

Die Geschichte der Individualisierung hat zweifellos ihre guten Seiten: „Die wohlfahrtstaatliche Aufschwungphase hat bei gleichbleibenden Ungleichheitsrelationen eine kulturelle Erosion und Evolution der Lebensbedingungen ausgelöst, die schließlich auch die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen hervortreten lässt. Dies ist die Dynamik des Individualisierungsprozesses, der im Zusammenwirken aller genannter Komponenten – mehr arbeitsfreie Zeit, mehr Geld, Mobilität, Bildung usw. – seine strukturverändernde Intensität entwickelt und die Lebenszusammenhänge von Klasse und Familie aufbricht.“ (Beck 1986, 130) Allerdings werden die positiven Seiten schnell verschüttet, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr stimmen: „Das Hervortreten von Individualisierungstendenzen ist (…) an gesamtgesellschaftliche (soziale, wirtschaftliche, rechtliche und politische) Rahmenbedingungen gebunden, die – wenn überhaupt – bislang nur in wenigen Ländern und auch hier erst in der sehr späten Phase ihrer wohlfahrtstaatlichen Entwicklung verwirklicht wurden. Hierzu gehören (…): allgemeine wirtschaftliche Prosperität und damit verbundene Vollbeschäftigung, Ausbau des Sozialstaates, Institutionalisierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung, Bildungsexpansion, Erweiterung des Dienstleistungssektors und so eröffnete Mobilitätschancen, Reduzierung der Arbeitszeit usw.“ (Beck 1986, 133)

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zerfallen dann, wenn die Modernisierung blind vorwärtshuscht – ohne Selbstkritik (beziehungsweise politische oder demokratische Kritik), ohne Institutionalisierung von Selbstrevisionen. Beck spielt auf eine Passage Max Webers an:„(Max Weber) hat die Moderne in den industriegesellschaftlichen Formen und Strukturen gedacht, die vor seinen Augen bestanden oder entstanden. Die in seinen Schriften vielfach angelegte Möglichkeit einer Selbstrevision der Moderne, in der die modernen Fellachen des modernen Überallägyptens das entstandene Gehäuse der Hörigkeit, das sie in ihrem eigenen Handeln geworden sind, abstreifen oder auch nur lockern, muss wohl eher in späte Ergänzungen hineinzitiert werden. Dass die Menschen, ebenso wie sie im ausklingenden Mittelalter aus den weltlichen Armen der Kirche in die Emsigkeit des industriellen Kapitalismus entlassen wurden, in einem weiteren Schub derselben Bewegung auch aus den Formen und Bindungen der so entstandenen Industriegesellschaft freigesetzt und damit in wiederum neuer Form auf sich selbst in eine nachindustrielle Einsamkeit zurückgeworfen werden, ist gedanklich, aber nicht schriftlich in seinen Büchern enthalten.“ (Beck 1986, 135)

Nach unseren Lebenserfahrungen steht der moderne Christenmensch dem Verfahren der Kritik hilflos gegenüber. Die Selbstrevision ist nicht als Selbstverständlichkeit verankert. Diese Erfahrung muss gesellschaftlich generalisiert werden. Das heißt: die moderne Gesellschaft, wie wir sie erfahren, funktioniert in ihrer Reflexion/Rationalität blind, also eigentlich in einer Reflexion ohne Reflexion, ohne Kritik. Das ist der Grund ihrer Negativität. Wie sind nun die Formen des Schlechten der Modernisierung im Prozess der Individualisierung anzugeben?

Auffällig ist wie angetönt eine eigentümliche Entwertung der Rationalität: „(Die Bildungschancen) werden immer notwendiger, um überhaupt noch am Konkurrenzkampf um rar gewordene Arbeitsplätze teilhaben zu können, und insofern aufgewertet. Stand am Beginn der Bundesrepublik ein kollektiver Aufstieg, so kennzeichnet die achtziger Jahre ein kollektiver Abstieg: Dieselben Bildungspatente (Abitur, Diplom, betriebliche Ausbildung), die noch bis in die siebziger Jahre hinein sichere Arbeitsmarktchancen eröffnet haben, bieten keine Gewähr mehr dafür, überhaupt einen existenzsichernden Arbeitsplatz zu ergattern. Dieser ‘Fahrstuhl-Effekt’ nach unten verleiht aber alten, ‘ständischen’ Auswahlkriterien eine neue Bedeutung. Der Abschluss alleine reicht nicht mehr hin; hinzukommen müsse ‘Auftreten’, ‘Beziehungen’, ‘Sprachfähigkeit’, ‘Loyalität’ – also extrafunktionale Hintergrundkriterien einer Zugehörigkeit zu ‘sozialen Kreisen’, die durch die Bildungsexpansion gerade überwunden werden sollte.“ (Beck 1986, 139)

Mit der verhunzten Rolle der Rationalität macht sich wieder ein Boden der Schulderfahrung breit: „Individualisierung widerspricht nicht, sondern erklärt das Eigentümliche dieser ‘neuen Armut’. Die Massenarbeitslosigkeit wird unter den Bedingungen der Individualisierung den Menschen als persönliches Schicksal aufgebürdet. Sie werden nicht mehr sozial sichtbar und kollektiv, sondern lebensphasenspezifisch von ihr betroffen. Die Betroffenen müssen mit sich selbst austragen, wofür armutserfahrene, klassengeprägte Lebenszusammenhänge entlastenden Gegendeutungen, Abwehr- und Unterstützungsformen bereithielten und tradierten. Das Kollektivschicksal ist in den klassenzusammenhanglosen, individualisierten Lebenslagen zunächst zum persönlichen Schicksal, zum Einzelschicksal mit nur noch statistisch vernommener, aber nicht mehr (er)lebbarer Sozietät geworden und müsste aus dieser Zerschlagung ins Persönliche erst wieder zum Kollektivschicksal zusammengesetzt werden.“ (Beck 1986, 144)

Beck macht hier eine der wenigen normativen Schlussfolgerungen: dass es darum ginge, diejenigen Redeweisen, die auf eine persönliche Schuldzuweisung zielen, durch kritisches Bewusstsein so zu transformieren, dass präzise dieser Punkt nicht mehr zu erscheinen bräuchte. Dass dies dadurch zu geschehen hätte, dass von einem neuen Kollektivschicksal gesprochen werden müsste, ist eine ganz andere Frage, und vielleicht ist es ein Vorzug von Beck, dass er diesbezüglich recht vage bleibt.

Schuld und Armut sind keineswegs formlos, wenn sie wesentlich auch als Verstoßung zu charakterisieren sind. Denn das Verstoßenwerden geschieht nicht von einem Tag zum anderen, sondern produziert nebst der eigentlichen Hölle für Außenstehende auch Anzeichen wie das Feuer den Rauch: „(…) man weiß nicht, wo die Menschen sind. Es gibt Spuren. Das abgemeldete Telefon. Der überraschende Austritt aus dem Club. Aber sie verweisen nur noch einmal auf die Mauern des scheinbar Vorläufigen, mit dem sich die neue Armut auch dort noch umgibt, wo sie entgültig geworden ist.“ (Beck 1986, 149)

Dennoch ist das Innerliche des Schuldgefühls dramatischer als die materielle oder persönliche Ab- und Loslösung: „Die Kehrseite des Vorübergehenden, mit der die Arbeitslosigkeit eintritt, ist die Verwandlung von Außenursachen in Eigenschuld, von Systemproblemen in persönliches Versagen. Die Vorläufigkeit, die sich erst in Immer-und-immer-wieder-Versuchen in nicht mehr vorübergehende Dauerarbeitslosigkeit verwandelt, ist der Kreuzigungsweg des Selbstbewusstseins. Im kontinuierlichen Ausschluss des Möglichen wird die Arbeitslosigkeit, also etwas Äußerliches, Schritt für Schritt in die Person hineingedrückt, ihr zur Eigenschaft. Die neue Armut ist vor allem, aber nicht nur, ein materielles Problem. Es ist auch diese in die Stummheit hineingenommene, im rituellen Durchlaufen der vergeblichen Abwendungsversuche sich vollziehende Selbstzerstörung, mit der das Massenschicksal unter der Oberfläche wuchert.“ (Beck 1986, 150)

Dieses ist der absolute Endpunkt der Individualisierung: die reine Schuld oder der Tod.

Doch wie wirkt die Individualisierung auf diejenige Welt ein, wo noch Leben herrscht? Verschwinden hier die sozialen Beziehungen ganz? Beck spricht von drei Entwicklungsvarianten:

„1. Das Ende der traditionalen Klassengesellschaft ist der Anfang der Emanzipation der Klassen aus regionalen und partikularen Beschränkungen. Es beginnt ein neues Kapitel der Klassengeschichte, das erst noch geschrieben und entziffert werden müsste. Der Enttraditionalisierung der Klassen im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus könnte eine Modernisierung der Klassenbildung entsprechen, die das erfolgte Niveau der Individualisierung aufgreift und neu sozial und politisch zusammenfasst.

2. (Es) verlieren Betrieb und Arbeitsplatz als Ort der Konflikt- und Identitätsbildung an Bedeutung, und es bildet sich ein neuer Ort der Entstehung sozialer Bindungen und Konflikte heraus: die Verfügung und Gestaltung der privaten Sozialbeziehungen, Lebens- und Arbeitsformen; entsprechend kommt es zur Ausprägung neuer sozialer Netzwerke, Identitäten und Bewegungen.

3. Es kommt immer stärker zu einer Abspaltung eines Vollbeschäftigungs- von einem System der flexiblen, pluralen, individualisierten Unterbeschäftigung. Die sich verschärfenden Ungleichheiten verbleiben in der Grauzone. Der Lebensschwerpunkt verlagert sich vom Arbeitsplatz und Betrieb in die Gestaltung und Erprobung neuer Lebensformen und Lebensstile. Die im Aufbrechen der Familienform entstehenden Gegensätze zwischen Männern und Frauen treten in den Vordergrund.“ (Beck 1986, 152)

Beck begegnet dem möglichen harmlosen Eindruck der Entwicklung dadurch, dass er ihn benennt: „Worauf beruht denn der Eindruck der ‘Harmlosigkeit’ der Entwicklung? Er hängt an zwei seidenen Fäden: dem Kommen und Gehen im Millionen-Zug der Massenarbeitslosigkeit und dem Zusammentreffen von Arbeitslosigkeit mit einer historisch verordneten, soziokulturellen Erprobungsphase, in der die Lebenslauflinien brüchig und neu ‘er-lebt’ (im aktiven Wortsinn) werden müssen. Beides lässt sich aber genau andersherum wenden: mindestens ein Drittel der aktiven Erwerbsbevölkerung ist nicht nur durch Arbeitslosigkeit bedroht, sondern hat diese auch bereits einmal am eigenen Leib erfahren. Die Zahlen für registrierte Dauerarbeitslosigkeit weisen eine starke Aufwärtstendenz auf. Zu den tiefen Verunsicherungen in den Selbstverständlichkeiten des Lebens: Beziehungen zwischen den Geschlechtern, Ehe, Familie und zivilisatorischen Gefährdungslagen, gesellt sich also eine globale materielle Verunsicherung der Lebensführung, von der die konstanten Arbeitslosenzahlen über zweieinhalb Millionen nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Nicht nur der aktuelle materielle Durchbuch, der sich im Anwachsen der Sozialhilfeempfänger und Tippelbrüder ausdrückt, ist das Alarmierende. Hinzu kommt wesentlich der Globalschock der materiellen Verunsicherung hinter den noch intakten Fassaden der Normalexistenz bis hinein in die bestintegrierten und wohlverdienenden Facharbeiter- und gehobenen Angestellten-Familien.“ (Beck 1986, 153)

Die Verharmlosung der Entwicklung wird nicht zuletzt gefördert durch die Omnipräsenz der Buntheit und Hyperaktivität der Massenmedien. Auf eigentümliche Weise greifen auch sie direkt aufs Individuum zu, so dass das Unterhaltungsopfer zum selben wird der Sekten. „Es entsteht (…) eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden.“ Wenn darin eine „Wurzel für die gegenwärtige ‘Psychowelle’“ liegt, so liegt hier auch der Grund dafür, dass die „entstehende Sozialstruktur anfällig für massenmedial forcierte Modethemen und Konfliktmoden“ wird. (Beck 1986, 158f)

In einer solcherweise chaotischen Situation ist es zwar schwierig, Rezepte für einen vernünftigen Ausweg praktikabel zu formulieren. Doch ein Schluss lässt sich mit Fug und Recht festhalten, und man kann ihn nicht genügend oft wiederholen, dass alle Tendenzen zurückzuweisen sind, die die Schuld bei den einzelnen festmachen wollen.

Es kann nun ein Schema erstellt werden, in dem alle Wege erscheinen und in dem alle (widersprüchlichen) Kreuzungen plausibel werden, die mit dem Begriff und dem gesellschaftlichen Prozess der Individualisierung zu tun haben: alle, die einem positiv erscheinen, (mehr Freiheit, Überbordwerfen von Überaltertem, Beziehungen ohne Verpflichtungen) und alle, die den Gesamtprozess desaströs erscheinen lassen (Vogelfreiheit, Denkblockierung in der Kulturindustrie und Schuld in der Existenzweise, unverhoffte neue Kontrollen). Beck schreibt: „Modernisierung führt nicht nur zur Herausbildung einer zentralisierten Staatsgewalt, zu Kapitalkonzentrationen und zu einem immer feinkörnigeren Geflecht von Arbeitsteilungen und Marktbeziehungen, zu Mobilität, Massenkonsum usw., sondern eben auch (…) zu einer dreifachen ‘Individualisierung’: Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‘Freisetzungsdimension’), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‘Entzauberungsdimension’) und (…) eine neue Art der sozialen Einbindung (‘Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension’).“ (Beck 1986, 206)

Zur Individualisierung im Prozess der Modernisierung gehört also:

Freisetzung aus sozialen Zusammenhängen

Entzauberung von traditionalen Normen und Werten

neuartige Kontrollmechanismen.

Diese Momente haben jeder für sich zwei Seiten, indem sie als objektiv gegebene betrachtet und analysiert werden können, aber auch als subjektiv wahrgenommene. Das führt zu einer Tabelle mit drei Reihen und zwei Spalten. Auf diese Weise sollen alle gegenwärtigen Prozesse, die sowohl mit Modernisierung wie Individualisierung zu tun haben, einander aber widersprechen, sinnfällig kategorisiert werden können (Beck 1986, 207):

 

Individualisierung

  Lebenslage

objektiv

Bewusstsein/Identität

subjektiv

Freisetzung    
Stabilitätsverlust    
Art der Kontrolle    

 

Es wird nun das Komplexe der Individualisierung auf den Punkt gebracht, beziehungsweise auf den Knoten, der sich weder aufdröseln, aufschnüren noch durchschlagen lässt: „(Die) Ausdifferenzierung von ‘Individuallagen’ geht (…) gleichzeitig mit einer hochgradigen Standardisierung einher. Genauer gesagt: Eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewirken auch eine Standardisierung. Dies gilt für Markt, Geld, Recht, Mobilität, Bildung usw. in jeweils unterschiedlicher Weise. Die entstehenden Individuallagen sind durch und durch (arbeits-)marktabhängig. (…) Das scheinbare Jenseits der Institutionen wird zum Diesseits der Individualbiographie. Dieser institutionelle Grenzen übergreifende Zuschnitt von Lebenslagen ergibt sich gerade aus deren Institutionenabhängigkeit (im weitesten Sinne): die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und deshalb bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung. Dies alles verweist auf die institutionenabhängige Kontrollstruktur von Individuallagen. Individualisierung wird zur fortgeschrittensten Form markt-, rechts-, bildungs- usw. -abhängiger Vergesellschaftung.“ (Beck 1986, 210)

Wie bei Gorz und wie bei Habermas im Verhältnis der Systemzwänge zur Lebenswelt sieht Beck nicht nur eine angeschlagene oder gar zerstörte Hoffnung, sondern pocht auf die systemangelegte Eingriffsmöglichkeit durch Politisierung: „Gerade Individualisierung bedeutet also: Institutionalisierung, institutionelle Prägung, und damit: politische Gestaltbarkeit von Lebensläufen und Lebenslagen. (…) Die Individualisierung (…) geht einher mit einer Vereinheitlichung und Standardisierung der Existenzformen.“ (Beck 1986, 212f) Sofern die Vereinheitlichung wahrnehmbar ist, kann sie natürlich auch wieder umgestaltet werden (dass die Umgestaltung selbst gerade die Vereinheitlichung ausmachen kann, ist eine bloße Gedankenflause).

Werden das objektive Risiko und die subjektive Individualisierung zusammengenommen, ergibt sich ein eigentümlich mythisches Verhältnis von Ursache und Wirkung, in dem alles Befreiende der Individualisierung in sein Gegenteil umschlägt: Es sind nicht mehr die Verhältnisse falsch organisiert, sondern letztlich alles Falsche – auch die „Risiken“ der Militär- und Atomproduktion – das Produkt der einzelnen, die doch als die Bedrohten erscheinen sollten: „In der Konsequenz werden die Schleusen für die Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlich-institutionell erzeugter Risiken und Widersprüche geöffnet. Für den einzelnen sind die ihn determinierenden institutionellen Lagen nicht mehr nur Ereignisse und Verhältnisse, die über ihn hereinbrechen, sondern mindestens auch Konsequenzen der von ihm selbst getroffenen Entscheidungen, die er als solche sehen und verarbeiten muss. Dies wird auch dadurch begünstigt, dass sich unter der Hand der Charakter der typischen Ereignisse verändert, die den einzelnen aus der Bahn werfen. War das, was ihn traf, früher eher ein ‘Schicksalsschlag’, qua Gott oder Natur gesandt, z. B. Krieg, Naturkatastrophen, Tod des Ehepartners, kurz, ein Ereignis, für das er selbst keine Verantwortung trug – so sind es heute weit eher Ereignisse, die als ‘persönliches Versagen’ gelten, vom Nicht-Bestehen eines Examens bis zu Arbeitslosigkeit oder Scheidung. In der individualisierten Gesellschaft nehmen also nicht nur, rein quantitativ betrachtet, die Risiken zu, sondern es entstehen auch qualitativ neue Formen persönlichen Risikos: Es kommen (…) auch neue Formen der ‘Schuldzuweisung’ auf.“ Solche lassen sich offenbar ins Grenzenlose steigern: „Die Weltgesellschaft wird Teil der Biographie, auch wenn diese Dauerüberforderung nur durch das Gegenteil: Weghören, Simplifizieren, Abstumpfen zu ertragen ist.“ (Beck 1986, 218f)

 

Entstandardisierung der Erwerbsarbeit

In herkömmlicher Weise assoziieren wir mit dem Begriff der Arbeit nicht nur Schweiß und alles Unfreiwillige, sondern auch künstlerischen Ausdruck und individuelle Entfaltung, also das, was zu einer existentiellen Befriedigung führt. Ebenso hat die Arbeit aber auch eine gesellschaftlich-kommunikative Seite, indem der Ausführende oder Träger einer bestimmten Tätigkeit gewisse ‘Informationen’ über sich selbst zu verstehen gibt: „Wenn wir den Beruf unseres Gegenübers kennen, glauben wir, ihn (sie) zu kennen. Der Beruf dient zur wechselseitigen Identifikationsschablone, mit deren Hilfe wir die Menschen, die ihn ‘haben’, einschätzen in ihren persönlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten, ihrer ökonomischen und sozialen Stellung. So seltsam es ist, die Person mit dem Beruf gleichzusetzen, den sie hat. In der Gesellschaft, in der das Leben auf dem Faden des Berufs aufgereiht ist, enthält dieser tatsächlich einige Schlüsselinformationen: Einkommen, Status, sprachliche Fähigkeiten, mögliche Interessen, Sozialkontakte usw.“ (Beck 1986, 221)

Diese Identität oder Identifizierbarkeit der Person durch die Arbeit ist es, was mit der Entstandardisierung der Erwerbsarbeit zerfällt. Das ist nicht in jedem Fall etwas Schlechtes, aber es ist doch ein entscheidender Umbruch: „Mehr Lebenszeit insgesamt, weniger Erwerbsarbeitszeit und mehr finanzieller Spielraum – dies sind die Eckpfeiler, in denen sich der ‘Fahrstuhl-Effekt’ im biographischen Lebenszuschnitt der Menschen ausdrückt. Es hat – bei konstanten Ungleichheitsrelationen – ein Umbruch im Verhältnis von Arbeit und Leben stattgefunden.“ (Beck 1986, 124) Und schlecht kann er dann werden, wenn der Bruch zwischen Arbeit und Leben absolut wird – wenn wegen Dauerarbeitslosigkeit kein Zugang mehr zum brüchigen Feld der Erwerbsarbeit zu bestehen scheint.

Beck schätzt die objektive Verlaufslage nicht anders als Gorz ein: „(Die offizielle) Einschätzung der Entwicklung sagt zwar noch eine lange Durststrecke bis weit in die neunziger Jahre voraus: aber nach diesen ‘dürren’ können wieder ‘fette’ Jahre am Arbeitsmarkt erwartet werden – mit der entscheidenden Konsequenz, dass auf diese Weise einer ‘Nichtpolitik des Überwinterns’ (…) das Wort geredet wird. Es kommt gemäss dieser politikentlastenden Version nur darauf an, ‘Übergangsmaßnahmen’ zu treffen, um die Situation für die ‘betroffenen Zwischengenerationen’ abzumildern. An dem grundsätzlichen wirtschafts-, arbeitsmarkt-, und bildungspolitischen Kurs dagegen braucht nicht nur, sondern darf letztlich nicht herumexperimentiert werden. Diese Deutung (…) steht und fällt mit einer Prämisse, die hier systematisch bezweifelt werden soll: der Kontinuität des bisherigen Beschäftigungssystems und seiner tragenden Säulen Betrieb, Arbeitsplatz, Beruf, Lohnarbeit etc.“ (Beck 1986, 223)

Ich möchte das Gemeinsame an der Einschätzung der Arbeitsmarktlage bei Gorz und bei Beck hervorheben. Beide kommen zum Schluss, dass nicht wie auch schon mal die Arbeitslosigkeit von alleine verschwindet. Es handelt sich nicht um eine vorübergehende Krise, nach welcher, wie spät auch immer, für alle Gewillten wieder Arbeit, Erwerbsarbeit vorhanden sein wird. Dieser Ofen ist aus. Deshalb muss strukturell eingegriffen werden.

Beck betont den schleichenden Weg im Überhandnehmen der Arbeitslosigkeit: „(Das) standardisierte Vollbeschäftigungssystem beginnt in den aktuellen und bevorstehenden Rationalisierungswellen vom Rande her in Flexibilisierungen seiner drei tragenden Säulen – Arbeitsrecht, Arbeitsort, Arbeitszeit – aufzuweichen und auszufransen. Damit werden die Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit fließend. Flexible, plurale Formen der Unterbeschäftigung breiten sich aus. (…) Damit wechselt (…) das Beschäftigungssystem in wesentlicher Hinsicht seine Erscheinungsform. An die Stelle der sichtbaren, in Hochhäusern und Fabrikhallen zusammengeballten Betriebsförmigkeit der Arbeit tritt eine unsichtbare Betriebsorganisation. Beobachtbares Anzeichen für einen derartigen Übergang vom alten in das neue Beschäftigungssystem wäre das allmähliche Verwaisen der großräumigen Arbeitsgebäude, die mehr und mehr wie Dinosaurier des Industrie-Zeitalters an eine ausklingende Epoche erinnern würden.“ (Beck 1986, 225)

Man muss offenbar von zwei Arbeitsmärkten sprechen, einem herkömmlichen, nach wie vor intakten, und einem risikogesellschaftlichen flexibel-pluralen für Unterbeschäftigung: „Mit der räumlichen Flexibilisierung der Erwerbsarbeit (können) Souveränitätsgewinne der Arbeitenden über ihre Arbeit kombiniert werden mit einer Privatisierung der gesundheitlichen und psychischen Risiken der Arbeit. Arbeitsschutznormen entziehen sich in dezentralen Arbeitsformen öffentlicher Kontrolle, und die Kosten für ihre Übertretung oder Einhaltung werden auf die Arbeitenden selbst abgewälzt. (…) Die Arbeitenden tauschen ein Stück Freiheit von der Arbeit gegen neuartige Zwänge und materielle Unsicherheiten ein. Arbeitslosigkeit verschwindet, aber taucht zugleich in neuen risikovollen Unterbeschäftigungsformen generalisiert wieder auf. (…) Es wird (…) eine neuartige Spaltung des Arbeitsmarktes zwischen einem industriegesellschaftlich einheitlichen Normalarbeitsmarkt und einem risikogesellschaftlichen flexibel-pluralen Markt für Unterbeschäftigungen geschaffen, wobei dieser zweite Arbeitsmarkt sich quantitativ ausweitet und den ersten mehr und mehr dominiert.“ (Beck 1986, 227f)

Es scheint, dass die Tatsache, dass Unternehmen ihren Umsatz zwar vergrößern können und trotzdem Personal abbauen, darin zu sehen ist, „dass die Spielräume für standardisierte Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich außerordentlich gering sind“ (Beck 1986, 229).

Wird der Markt der Unterbeschäftigung durch sozialstaatliche Maßnahmen in den Arbeitsmarkt integriert, sieht Ulrich Beck zuversichtlich in die Zukunft (anders formuliert: wenn es der Sozialarbeit gelingt, sämtliche Notfälle zu verarzten, besteht kein Grund zur Besorgnis): „Bei gleichbleibender Logik gewinnorientierter Rationalisierung wird die Zäsur vom bekannten, industriell standardisierten System zu einem zukünftigen System pluralisierter, flexibler, dezentraler Unterbeschäftigung vollzogen. Die Parallele zur lebensphasenspezifischen Verteilung der Massenarbeitslosigkeit drängt sich auf: ähnlich wie Lebensabschnitte von Arbeitslosigkeit schon für große Teile der Bevölkerung zum Bestandteil der Normalbiographie geworden sind, wird nun Unterbeschäftigung als Synthese von Vollbeschäftigung und Arbeitslosigkeit ins Beschäftigungssystem ‘integriert’. Der biographischen entspricht die institutionelle ‘Normalisierung’ – mit offenem Ausgang. Wesentlich bleiben die politischen Reaktionen. Ohne Ausbau des sozialen Sicherungssystems droht eine Zukunft der Armut. Mit der Schaffung eines rechtlich abgesicherten Mindesteinkommens für alle könnte der Entwicklung ein Stück Freiheit abgewonnen werden.“ (Beck 1986, 236)

Deutliche Worte spricht Beck gegen sozialarbeiterische Projekte, die zwar einzelnen Unterstützung zukommen lassen wollen, gegen die gesellschaftliche Situation der Arbeitslosigkeit einzugreifen aber nicht Bereitschaft zeigen: „Sozialarbeiter, Psychologen und Betreuer, die um ‘Rehabilitation’ und ‘Integration’ dieser Personen und Gruppen (wie Straftäter, psychisch Kranker und Hausfrauen) bemüht sind – was ja immer heißt, Arbeitslose in das Erwerbssystem zu integrieren –, gefährden die Effektivität und Autorität ihrer Arbeit, weil derartige Programme nichts an der Grundsituation des bestehenden Arbeitsmangels ändern können.“ (Beck 1986, 239)

Wie beschreibt Beck die Betroffenen?

„Besonderes Merkmal der Massenarbeitslosigkeit ist (eine) Doppeldeutigkeit: Einerseits trifft das Risiko, arbeitslos zu werden und zu bleiben, mit voller Härte sowieso schon benachteiligte Gruppen (erwerbstätige Mütter, Personen ohne berufliche Ausbildung, Kranke, Ältere und Ausländer sowie gering qualifizierte Jugendliche). Eine wachsende Anzahl wird dabei von der Arbeitslosenstatistik nicht mehr erfasst. Diesen Risikofaktoren (…) entsprechen jedoch keine sozialen Lebenszusammenhänge, oft auch keine ‘Kultur der Armut’. Hier trifft also mehr und mehr Arbeitslosigkeit (und in der Folge ihrer Dauer: Armut) mit klassenzusammenhangloser Individualisierung zusammen. Auf der anderen Seite täuscht die Konstanz der Zahlen – weit über zwei Millionen nun schon über viele Jahre und mit stabilen Zukunftsaussichten bis weit in die neunziger Jahre hinein – darüber hinweg, dass Arbeitslosigkeit nicht gleich als dauerndes Fatum, sondern zunächst oft mit den leisen Solen des Vorübergehenden in das Leben eintritt, kommt und geht und sich irgendwann einmal niederlässt, sesshaft wird, allerdings sich dann mit der Schwere der enttäuschten Überwindbarkeit im Innersten der Person selbst einnistet.“ (Beck 1986, 146)

Sehr gut erfasst Beck die anfängliche subjektive Einschätzung der Lage, die so stark wirkt, dass unter Arbeitslosen vorläufig kaum mit Solidaritätsaktionen zu rechnen ist: „Es ist wie in der U-Bahn. Man fährt ein paar Stationen mit, steigt wieder aus. Beim Einsteigen denkt man schon ans Aussteigen. Die Menschen begegnen sich eher verlegen. Das Aussteigenwollen, das jeder (Arbeitslose/Arme) mit sich herumträgt, ebenso wie jeder seine besondere Geschichte des Zusteigens auf den Lippen hat, verbindet nicht. Nur nachts, wenn der Zug steht, beginnen diejenigen, die im Drängeln der sich jeweils schnell wieder automatisch schließenden Türen das Draußen nicht erreicht haben (…), mit nur vorsichtig durch die Gitter der eigenen Schuldzuweisung ausgestreckten Händen aufeinander zu zu gehen und miteinander zu reden.“ (Beck 1986, 147)

Allerdings sieht Beck den Mangel an Solidarität nicht nur in der unverwüstlichen Ächtung der Arbeitslosigkeit, sondern wie auch sonst üblich heute als abschlaffender Effekt des Wohlfahrtstaates: „Mit (der) wohlfahrtsstaatlichen Enttraditionalisierung sozialer Klassen ist es immer weniger möglich, die Entstehung von Solidaritäten gruppenspezifisch, arbeiterspezifisch auf das historische Urbild des ‘proletarischen Produktionsarbeiters’ festzulegen. Die Rede von ‘Arbeiter-Klasse’, ‘Angestellten-Klasse’ usw. verliert ihre lebensweltliche Evidenz, womit Grundlage und Bezugspunkt für den unendlichen Austausch der Argumente entfallen, ob das Proletariat ‘verbürgerlicht’ oder Angestellte ‘proletarisiert’ werden.“ (Beck 1986, 154)

Gegen das Ende der Risikogesellschaft gerät Beck in eine Mischung von Pessimismus und Optimismus. Einerseits bezweifelt er die Möglichkeit einer theoretischen Erfassung der Lage im herkömmlichen Stil: „Funktionalistische, organisationssoziologische und neomarxistische Analysen denken noch in ‘Gewissheiten’ von Großorganisation und Hierarchie, Taylerismus und Krise, die durch die betrieblichen Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten in den Unternehmen längst unterlaufen werden. Mit den Rationalisierungsmöglichkeiten der Mikroelektronik und anderen Informationstechnologien, mit den Umweltfragen und der Risikopolitisierung ist auch in die Kathedralen der ökonomischen Glaubenssätze die Ungewissheit eingezogen. Was eben noch fest schien und vorgegeben, wird beweglich: Zeitliche, örtliche und rechtliche Standardisierungen der Erwerbsarbeit; die Machthierarchie von Großorganisationen; Rationalisierungsmöglichkeiten halten sich nicht mehr an die bisherigen Schemata und Zuordnungen: übergreifen die ehernen Grenzen von Abteilungen, Betrieben und Branchen; das Gefüge der Produktionssektoren kann elektronisch neu vernetzt werden; technische Produktionssysteme können unabhängig von menschlichen Arbeitsstrukturen verändert werden; die Vorstellungen von Rentabilität geraten angesichts von marktbedingten Flexibilitätserfordernissen, ökologischer Moral und der Politisierung von Produktionsbedingungen in Fluss; und neue Formen ‘flexibler Spezialisierung’ machen den alten ‘Ozeanriesen’ der Massenproduktion wirkungsvoll Konkurrenz.“ (Beck 1986, 345f)

Andererseits fundiert er die neuen Arbeitsmarktprozesse so in den alten, dass von einer Katastrophe kaum mehr etwas zu sehen übrigbleibt: „(Die) Abkehr von den ‘Organisationsgiganten’ mit ihren Standardisierungszwängen, Kommandoordnungen usw. kollidiert nicht mit den Grundprinzipien industrieller Produktion – Gewinnmaximierung, Eigentumsverhältnisse, Herrschaftsinteressen –, sondern wird vielmehr von ihnen erzwungen. Selbst wenn nicht alle (…) ‘Säulen’ des Industriesystems – das Betriebsparadigma, die Schematik der Produktionssektoren, die Formen der Massenproduktion und die zeitlichen, örtlichen und rechtlichen Standardisierungen der Erwerbsarbeit – auf einmal und flächendeckend gelockert oder aufgelöst werden, bleibt immer noch ein Systemwandel von Arbeit und Produktion, der die scheinbar in alle Zukunft hinein geltende Zwangseinheit industriegesellschaftlicher Organisationsformen von Wirtschaft und Kapitalismus relativiert auf eine historisch vergängliche Übergangsphase von ca. einem Jahrhundert Geltung. (…) Insgesamt greift der Tendenz nach die Pluralisierung der Lebensformen auf die Produktionssphäre über: Es kommt zu einer Pluralisierung der Arbeitswelten und Arbeitsformen, in denen eher ‘konservative’ und ‘großstädtische’ Varianten im Wettstreit miteinander liegen.“ (Beck 1986, 355)

Wie in der Frage des Risikos erscheint das Problem der Moderne, der Individualisierung und der Arbeitslosigkeit als ein geistiges. Es ist ganz viel schon gemacht, wenn das Problem zur Sprache gebracht worden ist, wenn nur schon dieser eine Teufel gebannt worden sein wird, die fatalistische Haltung, es könne doch nichts gemacht werden, weil nichts gemacht werden müsse, weil nichts gemacht werden dürfe: „Der Gang der Dinge (ist) keineswegs so unabänderlich, wie immer noch oft unterstellt wird. Die Alternative liegt auch nicht in dem Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus, der das letzte und auch dieses Jahrhundert beherrscht hat. Entscheidend ist vielmehr, dass beides: Gefährdungen und Chancen, verkannt werden, die im Übergang zur Risikogesellschaft liegen. Der ‘Urfehler’ der Reindustrialisierungsstrategie, die das 19. Jahrhundert ins 21. hineinverlängert, liegt darin, dass der Gegensatz zwischen Industriegesellschaft und Moderne unentdeckt bleibt. Die unauflösliche Gleichsetzung von Entwicklungsbedingungen der Moderne im 19. Jahrhundert, die im Projekt der Industriegesellschaft gebündelt sind, mit dem Entwicklungsprogramm der Moderne verstellt den Blick auf zweierlei: erstens, dass in zentralen Feldern das Projekt der Industriegesellschaft auf eine Halbierung der Moderne hinausläuft und, zweitens, dass damit das Festhalten an den Erfahrungen und Leitsätzen der Moderne die Kontinuität und Chance bietet, die industriegesellschaftlichen Restriktionen zu überwinden. Dies heißt konkret: Im Andrang der Frauen auf den Arbeitsmarkt, in den Entmystifizierung wissenschaftlicher Rationalität, an dem Schwinden des Fortschrittsglaubens, in den außerparlamentarischen Veränderungen der politischen Kultur werden Ansprüche der Moderne gegen ihre industriegesellschaftliche Halbierung selbst dort geltend gemacht, wo bislang neue lebbare, institutionalisierbare Antworten noch nicht in Aussicht stehen. Selbst das Gefährdungspotential, das die Moderne in ihrer industriegesellschaftlichen Systematik inzwischen ohne Vor-Sicht und im Gegensatz zu dem Rationalitätsanspruch, unter dem sie selbst steht, freisetzt, könnte eine Herausforderung an die schöpferische Phantasie und menschlichen Gestaltungspotentiale darstellen, wenn es endlich als solches wahr- und das heißt: ernst genommen würde und die eingeübte industriegesellschaftliche Geste der Leichtsinnigkeit nicht länger auf Bedingungen übertragen würde, die diese Vogel-Strauss-Politik nun wirklich nicht mehr erlauben.“ (Beck 1986, 362)

 

Zusammenfassung

I.                    Die Entfaltung der Industriegesellschaft geht in dem Sinne widersprüchlich vor sich, dass sie den Prozess der Modernisierung der Gesamtgesellschaft stört oder, wie Beck sagt, „halbiert“.

II.                 In der halbierten Moderne löst sich das Problem des Mangels an Reichtum, des Mangels an Gütern ab durch das der Häufung von Risiken.

III.               Nicht die Form der Produktion durchs Privatkapital ist das Problem, sondern die technische, produktionsorganisatorische, marktlogische, ökologische, pädagogische und rechtliche Rationalität. Indem sie der engen Logik folgen, durch welche Mittel ein Zweck am einfachsten und billigsten erreicht wird, sind sie blind gegen die Zusammenhänge, in denen die Zwecke stehen beziehungsweise welche sie erst schaffen. (Es gibt da eine Parallele zu Gorz, wie er in der Kritik der ökonomischen Vernunft von der Perspektive der Wege ins Paradies abrückt, die Prozesse aus der Verwertungslogik des Privatkapitals zu erklären, und eine Verankerung des Falschen in der Geschichte der Vernunft auszumachen versucht.)

IV.              Ein eigenständiges Modernisierungsphänomen ist die Individualisierung, ein auf seinem Weg von der räuberischen Gesellschaft ausgeplünderter Individualismus.

·      Die kapitalistische Güterproduktion hat das Alltagsleben beziehungsweise die Lebenswelt sukzessive ein paar Stufen reicher erscheinen lassen (Fahrstuhl-Effekt). Dieser Eindruck der Freiheit in der Wahl kippt leicht in eine bedrohliche Vogelfreiheit, wenn der Zugang zu den Märkten wegen leeren Lohnkonten nicht mehr möglich ist.

·      Wo Gesellschaften oder Gesellschaftsgruppen in einem Austauschverhältnis stehen, verhindern Vorurteile das benötigte Vertrauen zum Tauschhandeln, das selbst auf der Zweck-Mittel-Rationalität beruht. In solchen sozialen Räumen, die längst schon in die ländlichen und landwirtschaftlichen Zonen vorgestossen sind, zerbröcklen die Normen und Werte, all das, was mit Tradition zu tun hat, etwa so, dass der Jodel im High-Tech-Aufzug dahergeschmettert wird oder wenigstens in High-Fidelity-Qualität die Milchproduktion am Fliessen hält. Die Folge ist, dass das Individuum sich aus den traditionalen Banden verstossen sieht – und neu sich den Normen, Werten und Standards der Märkte unterwerfen muss. Diese wirken anonym, unvermittelt und schonungslos. Zum Gefühl der Vogelfreiheit gesellt sich, nicht weniger teuflisch, das Gefühl der Eigenschuld, des selbstverschuldeten Unvermögens und Überforderung.

·      Im Bereich der Geschichte der sozialen Kontrolle kann festgehalten werden, dass während des Prozesses der Individualisierung die körperliche, polizistisch-züchtigende Kontrolle sich ablöst durch eine räumliche und physische (Fabrikhalle, Produktekontrolle), schliesslich wiederum durch eine unbestimmte anonyme, die im Falle der Armut durch Abstossung in völlige Abhängigkeit und Erstarrung führt.

V.                 Die Arbeitslosigkeit kann als Risiko begriffen werden wie die Ereignisse von Tschernobyl, Rwanda, Yugoslawien oder im Prozess der Umweltzerstörung generell. Für sich genommen sind die Einzelschritte in der atomaren Energieproduktion rational; für sich genommen kann gegen den Schweizer Militärfreund nicht argumentiert werden; für sich genommen sind die Wege im ozeanischen, alpinen und lufttechnischen Verkehrswesen notwendig und also rational – und für sich genommen sind eben auch die Rationalisierungen in den Betriebsrestrukturierungen rational.

VI.              Dass es einen selbst trifft, wird durch das Konzept der gesamtgesellschaftlichen Individualisierung erklärbar: der einzelne ist nicht Zugehöriger einer Schicht oder Klasse – sondern immer schon nur irgendeiner. Er ist kein Individuum, das man hat treffen wollen, weil man ihm irgendwelche Schulden zuschiebt – er ist unschuldig schuldig.

VII.            Ist der Arbeitslose ein schlechtes beziehungsweise verdorbenes, schlecht gewordenes Mittel? Und darf eine moderne Gesellschaft die Möglichkeit dieser durchaus rationalen, aber um nichts weniger zynischen Sicht zulassen? An dieser Stelle stößt die Analyse auf eine Schranke. Sie kann noch darauf hinweisen, wieviele einzelne und Gruppen doch erfinderisch sind und sich eigene Traditionen, eigene Märkte schaffen – dann aber muss sich die Theorie politisch zeigen und daran appellieren, dass die einzelnen nicht als die Schuldigen verstanden werden dürfen und dass ein sozialstaatliches Mindesteinkommen hergestellt und garantiert werden muss, wenn der gesellschaftliche Gesamtprozess nicht weiter zerfallen soll.

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