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Gianmario Borio,

Musikalische Avantgarde um 1960. Entwurf einer Theorie der informellen Musik,

Laaber 1993

Nicht weit entfernt von Christine Eichel, wenn auch mit einer anderen Intention (die es erlaubt, sich innerhalb präzisierter Zeiträume aufzuhalten und deren Produkte auch von innen her zu beleuchten), lautet die These Borios, dass mit den Begriffen Eklektizismus, Stilvielfalt und Orientierungslosigkeit „sich die Unterschiede zwischen (den Fünfziger- und Sechzigerjahren) zwar beschreiben (lassen), aber nicht verstehen“ (Seite IX). Durch eine interdisziplinarische Ausrichtung auf die informelle Malerei lässt sich die „`Verfransung' der Musik in Bereiche anderer Künste, die ein Leitmotiv von Adornos Spätschriften bildet, (präziser fassen)“. Gemeinsam mit Eichel charakterisiert Borio die Zeit nach den Fünfzigerjahren als eine des Aufsprengens der Grenzen der einzelnen Künste, um aber, im Unterschied zu ihr, die analytische Kraft der Texte Adornos nicht a priori geringzuschätzen.

Im Zentrum des Wandels von den 50er zu den 60er Jahren steht die Bedeutung des Zufalls. Dem Denken Cages steht das europäische gegenüber, Boulez und Stockhausen, deren Fragen schon vor Cages Auftritt 1958 bezüglich der Geschlossenheit der Form Form annahmen und denen die eigenständige Aleatorik Lutoslawskis gegenübersteht. Großen Wert legt Borio auf die Geschlossenheit in der historischen Tendenz jener Zeit: „Dass dann die Bestrebungen zur Sprengung der musikalischen Form Ende der sechziger Jahre nachgelassen haben, zeigt auch hier die Geschlossenheit der postseriellen Phase und die (wenn auch partielle) Tauglichkeit der Zufallsproblematik zur Definition einer musikalischen Avantgarde, die im Zeichen des Informellen steht.“ (76)

Die Verfransung und das Aufeinanderbezugnehmen der Künste wird wie bei Eichel verstanden, der Begriff der Avantgarde aber nicht strategisch eingesetzt, als ob es eine Zeit ihrer Ermattung zu registrieren gelte: „Die Gemeinsamkeiten der technischen Vorgehensweisen und die ästhetischen Übereinstimmungen sind lediglich Signale einer Promiskuität der Gattungen, die desto intensiver wird, je problematischer die herkömmliche Vorstellung des avantgardistischen Werks wird. Die Feststellung solcher Konvergenzen darf sich nicht in phänomenologischen Randbemerkungen erschöpfen; sie soll Grundlage einer interdisziplinären Ästhetik werden, die damals mehr als in allen anderen Phasen der musikalischen Avantgarde von den Kunstobjekten selbst gefordert wurde.“ (80)

Wichtig, wenn auch zu speziell, um diskursiv verfügbar zu werden, ist Unterscheidung aus dem Jahre 1960 zwischen Textur (postseriell) und Struktur (seriell), die Ligeti in den Wandlungen der musikalischen Form vornimmt: „Während unter `Struktur' ein mehr differenziertes Gefüge zu verstehen ist, dessen Bestandteile unterscheidbar sind, und das als Produkt der Wechselbeziehungen dieser seiner Details zu betrachten ist, ist mit `Textur' ein homogener, weniger artikulierter Komplex gemeint, in welchem die konstituierenden Elemente fast völlig aufgehen. Eine Struktur kann gemäß ihren Komponenten analysiert werden; eine Textur ist besser durch globale, statistische Merkmale zu beschreiben.“ (87)

Eindeutiger als Eichel betont Borio Adornos Vorbehalte gegenüber einem Konvergieren der verschiedenen Künste: „Beim Feststellen des gemeinsamen Anliegens in Vorgängen und Konzeption von Malerei und Musik kann Adorno eine Skepsis nicht verbergen, deren Voraussetzungen in der Vorstellung der Polyphonie und der musikalischen Form der Wiener Schule liegen. Die Kontrollinstanz durch traditionsgesicherte Kriterien bildet einen Leitfaden, der sämtliche der Nachkriegsmusik gewidmete Texte Adornos durchzieht und eine ausgreifende Satz- und Formtheorie der informellen Musik weitgehend verhindert hat.“ (91)

Über das Wirkungsverhältnis zwischen Adornos „Theorie“ und den Künsten macht Borio handfeste Angaben: „Beinahe ein Paradox ist weiterhin (neben der fetischistischen Rezeption des Materialbegriffs; U. R.), dass die eher indirekt benannten Adressaten des Darmstädter Vortrags von 1961 (Vers une musique informelle, U. R.), Boulez, Stockhausen und Cage, diejenigen sind, die die Herausforderung einer informellen Musik am wenigsten angenommen haben. Komponisten dagegen, die in den fünfziger Jahren eher eine exterritoriale Existenz führten, deren Werke aber in den sechziger Jahren wachsende Bedeutung erlangten – wie Ligeti, Schnebel, Kagel und Evangelisti – rezipierten verschiedene Aspekte der Ästhetik Adornos.“ (108)

Auch die Bestimmungen zum Rätselcharakter der Kunstwerke und der Analysierbarkeit der letzteren erscheinen bei Borio adornonah: „Mit der Abkehr von der rationalen, auf Strukturen reduzierbaren Durchgestaltung, die einen wesentlichen Aspekt der informellen Musik bildet, verlieren auch die analytischen Methoden ihre Gültigkeit. Die Schwierigkeit, die Werke Feldmans zu verstehen, ist inhaltlich eine andere, aber prinzipiell nicht von der Schwierigkeit zu trennen, die die Werke Kagels, Evangelistis, Scelsis, Lachenmanns und des späten Nonos dem Betrachtenden entgegensetzen. Durch die Schwächen der Musiktheorie wird der `Rätselcharakter' der Musik ersichtlich, der jedes eminent neue Werk prägt.“ (150)

Das Buch enthält „Analysen“ informeller Werke von Ligeti, Schnebel, Clementi, Evangelisti, Feldman, Kagel, Isang Yun, auch von Boulez, Stockhausen und Lutoslawski. Solche konkreten Auseinandersetzungen fehlen bei Christine Eichel, die deswegen Adornos „Sprachähnlichkeit“ positivistisch zu missdeuten verführt ist. Borios Beschränkung und Fixierung auf Einzelwerke, und diese auf den Zeitraum der sechziger Jahre eingegrenzt, ist produktiver und macht die Bemerkungen zu Adorno griffiger.

Etwas fad & brav geraten ist die Dokumentation über die internationalen Wochen für Neue Musik von Palermo 1960-1968 – Die Zeitschrift „Collage“. (118-127)

Wenn auch keineswegs eine summarische Ablehnung zutagetritt, ist die Kritik doch prononciert: „Adornos Intuition einer informellen Orientierung der Neuen Musik wurde durch zwei Mängel getrübt: 1. das Fehlen einer theoretischen Auseinandersetzung mit der informellen Malerei – von der der Terminus stammt –, die ihre Werke eingehend untersuchen und adäquat auswerten sollte; 2. das Festhalten an Werkkriterien, die der klassisch-romantischen Tradition gehören, von denen sich aber informelle Werke durch offene Form, Verräumlichung der musikalischen Zeit und Klangkomposition absetzen.“ (169) Statt die Analysekriterien Stück für Stück auseinanderzufalten, verschiebt Berio das Terrain, um die neuen nichtseriellen Werke allgemein zu charakterisieren. Immerhin geraten diese Einschätzungen vertrauenswürdiger als bei Christine Eichel: „Informelle Werke klammern die mit dem seriellen Denken in die Krise geratene Sprachähnlichkeit der Musik nicht einfach aus. Ihr Verhältnis zur sprachlichen Gestaltung von Musik ist das einer sinnkonstituierenden Negation. Das bedeutet, dass lediglich die Analogie zu den syntaktischen Operationen verabschiedet wird, nicht aber die Möglichkeit, Sinn zu vermitteln. Dieser Zug unterscheidet informelle Kompositionen von den nicht intentionalen Gebilden Cages, deren Sinnzuschreibung zum beträchtlichen Teil dem Rezeptionssubjekt überlassen ist.“ (170f)

Borios Bezugnahme auf Habermas ist einigermaßen waghalsig. Dadurch wird aber möglich, dass Eichels frivoler und in blöder Affirmation terminierender Begriff der Interdisziplinarität der Künste, wenn auch ohne ihre Erwähnung an dieser Stelle (vgl. p. 91, Anm. 49), durch die triftigere, historisch aber eingegrenzte Idee ersetzt wird, dass die informellen Werke in eine Lebenswelt eingelassen wären, in der sie als eine Aussage dastehen, die durch die Berücksichtigung der Lebenswelt eben deutbar würde. (171ff)

Zusatz: Es war geplant, die Rezension erst nach dem Erscheinen der Darmstädter Beiträge 1992, hrsg. von Borio et al., fertig auszuformulieren. Die Nummer ist aber so enttäuschend, ohne Bezug auf relevante Diskussionen herausgekommen, dass eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Ansatz Borios nicht möglich scheint – auch jetzt bleibt derselbe im Stadium bloßer Präliminarien. Es macht nicht den Anschein, als wären von einer Theorie Elemente ausgestaltet, die man weiterführen oder zurückweisen könnte. Der Grund liegt wohl darin, dass Borios Theorie zu sehr darauf drängt, die Dinge wertneutral darzustellen, ohne selbst als Eingriff erscheinen zu müssen. Vielleicht muss man sagen, dass seine „Theorie“ deswegen scheitert, weil wir doch noch gar nicht aus dem Zeitalter der seriellen Musik herausgetreten sind, trotz Postserialismus. Man unterschätze das Problem nicht: die Idee der seriellen Musik ist deswegen wichtig, weil sie etwas Progressives enthält, nämlich die Kritik der Willkür. Stand am Ursprung der Kunst die Abwehr der Hybris theologisch, so hat der Begriff der Willkür etwas von dieser alten Ernsthaftigkeit, obwohl er eine ganz andere Ebene anspricht. Was bei Eichel und Borio aufstößt, ist die Affirmation von Tendenzen, bei denen das Kritische nur beiläufig, nur akzidentell eine Rolle spielt. Im Ausfransen der Künste kann nicht notwendigerweise eine epochale Tendenz festgemacht werden, weil es doch mehr nur ein Interesse einzelner Künstler an anderen Künsten ist, das zwar in begrüßenswerter Weise, aber doch nur beiläufig geschieht. Weder in den Technologien, den materialen Techniken der Künste noch in den gesamtgesellschaftlichen Produktionsverhältnissen lässt sich ein notwendiges aufeinander Bezugnehmen der Künste begründen.

(Einige Druckfehler, mangelhaftes Personenregister, unprofessioneller Zeilenumbruch.)