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Inhalt

Swetlana Alexijewitsch,
Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft,

Berlin 1997

Die verschiedenen Arten Berichte, Reflexionen und Reportagen zur Katastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 machen deutlich, dass im Zeitalter der Dialektik der Aufklärung es weniger die Geistes- und Sozialwissenschaften sind, die in einem verantwortungslosen Ästhetizismus gefangen wären als vielmehr die positivistische Wissenschaft, die als erstes doch klar von allem Zweckfreien sich fernhält, weil nur das Zweckrationale ihr vernünftig erscheint. Obzwar ungewollt, machen gerade diejenigen Versuche, die die wirklichen Ereignisabläufe und die systematischen Zusammenhänge erklären wollen, aus Tschernobyl einen distanzierten und ästhetischen Gegenstand, weil kein Modell mehr dem Alltagsmenschen die Sache begreifbar macht. Auch 15 Jahre nach dem Unglück erwächst selbst bei kompetenten AutorInnen der Eindruck, nur Laien würden für Laien Versuchserklärungen provisorisch zusammenstellen, und eine Verantwortung bei der Darstellung des Gesamtzusammenhanges dürfe mitnichten zur Zeit schon der erklärenden (populär-)wissenschaftlichen Theorie unterschoben werden (die reine wissenschaftliche Theorie ist von allem Problematischen gewissermaßen abgehoben, weil sie sozial gar nicht erscheint). Keiner der konsultierten Texte vermittelt ein Bild zu den trivialen Fragen der Größen-, Distanz- und Mengenverhältnisse sowohl der Bauten, der Gegenstände, der Einsatzmittel, der Landschaft, der verseuchten Wohnstätten usw. Einer der schlimmsten Effekte durch die positivistische Anmaßung besteht in der nach wie vor praktizierten Infragestellung eines notwendigen Zusammenhangs zwischen auftretenden Kinderkrankheiten und dem Reaktorunfall. Weil die Reihe der Kettenglieder nicht restlos von einem Ende zum anderen zu greifen vermag, wird die Existenz einzelner Teile überhaupt bestritten. Dadurch ist der Positivismus nicht nur bös gegenüber der Praxis, sondern ignorant gegenüber der Wirklichkeit überhaupt. Umgekehrt wird da etwas von der Wirklichkeit erfassbar, wo die Methode der Betrachtungsweise sie mit Bedacht ignoriert. Swetlana Alexijewitsch hat, formidabel durch Ingeborg Kolinko aus dem Russischen übersetzt, ein ergreifendes und kritisch-eingreifendes Buch zur Tschernobylkatastrophe zusammengestellt, indem sie sich darauf beschränkte, Beteiligte unzensuriert sprechen zu lassen: Angehörige der ersten und der nachfolgenden Rettungsmannschaften (von denen unzählige zu Tode kamen), überlebende und nachgeborene Kinder, ÄrztInnen, Pflegpersonal, Soldaten, Politiker, KernphysikerInnen, JournalistInnen, evakuierte, zurückgekehrte und (aus Kriegsgebieten) eingewanderte EinwohnerInnen der 50km-Zone mit und ohne Angehörige, die wegen des Unfalls starben. Es entsteht, gleich packend von Beginn weg, sukzessive der Eindruck, die Ruinen der Katastrophe würden von alleine zu sprechen anheben und präzise das der näheren und weiteren Mit- und Nachwelt ins Gedächtnis rufen, was notwendiger und hinreichender Grund der Wahrheit von Tschernobyl wäre: es hat nicht nur die unbeherrschte Technik einen großen Schaden angerichtet, sondern die ungezügelte Machtpolitik, die tief im Systematischen der Reproduktion der Naturwissenschaften Einsitz nimmt, indem die Studierenden sie ausblenden müssen, ihn als Katastrophe erst zum Wüten gebracht. Auf einem klärenden Mittelweg zwischen positivistisch blinder Dokumentation und anklagendem Selbstausdruck zirkelt das prosaische Buch von

Frank Franke, Norbert Schreiber und Peter Vinzens,
Verstrahlt, vergiftet, vergessen. Die Opfer von Tschernobyl nach zehn Jahren,

Frankfurt am Main und Leipzig 1996.

Drei Journalisten aus Frankfurt ist es vier Jahre nach der Katastrophe im Zusammenhang einer Hilfsgüteraktion zum ersten Mal gelungen, als unzensurierte Berichterstatter bis ins Zentrum vorzudringen. Hier gelingt es, einige Schauerlichkeiten zu Tatsachen festzufügen: 1. Im Umkreis von 50 Kilometern ist die Landschaft tot; zu sehen sind mutierte Hirsche und Wildschweine. Einige Alte haben die Evakuation verweigert oder rückgängig gemacht, Zuzüger aus Kriegsgebieten wie Tschetschenien oder Aserbeidschan riskieren ihr Leben, weil es ihrer Meinung nach in der Heimat noch schneller zu Ende ginge. Viele Gerätschaften wurden aus den stark vergifteten Privathäusern gestohlen und bedrohen nun die Bevölkerung landesweit, weil sie auf den Schwarz- und Trödlermärkten als vergiftete unerkannt verschoben werden. 2. Die EinwohnerInnen der ums AKW liegenden Städte und Dörfer wurden äußerst schlecht informiert; an der Spitze dieses Kommunikationssystems stand Michael Gorbatschow, der fürs sekundäre Unglück wohl auch heute noch zur Verantwortung gezogen werden müsste. Die Evakuierung erfolgte frühestens eine Woche nach dem Ereignis, teilweise angeblich mangels Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten erst nach Jahren. 3. Das Kraftwerk besteht aus vier Blöcken, also vier Reaktoren. Wie die Blöcke eins und zwei sind auch drei und vier durch eine Mauer weniger voneinander getrennt als vielmehr symbiotisch miteinander verbunden (Kabelungs-, Wasser- und Lüftungssysteme werden teilweise zusammen genutzt). Obwohl Reaktor vier wie ein Vulkan die Hölle aus sich stieß und weltweit zur Aussaat brachte, sind die Blöcke eins bis drei noch heute in Betrieb. 4. Für den Unterhalt werden täglich 1000 Arbeitende eingesetzt. Sie wohnen in einer Stadt 50 km weit entfernt, die extra zum Zweck der Fortsetzung der Stromproduktion nach dem GAU in Tschernobyl, dem größten anzunehmenden Unfall, hingeklotzt wurde. Hier leben die Arbeitenden mit ihren Familien, und von hier pendeln sie täglich zum Kraftwerk und zurück. Den Kindern ist es verboten, im Freien zu spielen. 5. Da es keine Verarbeitung des Systematischen in der Katastrophe der Informationspolitik gibt sowohl auf seiten der Behörden in Ost wie in West, ebenso wenig auf seiten der Atomlobby; und da es keine medizinische und soziale Unterstützung der Spitäler gab und gibt weder aus Moskau noch aus dem Westen (es gibt nur Ausnahmen!), muss gefolgert werden, dass das Unternehmen Atomstrom nach wie vor abhängig ist von der Willkür einer frei flottierenden, gesellschaftlich unverankerten Mafia und in keiner Weise also Bestandteil ist – und wäre es ein fragwürdiger – einer zivilen und demokratischen Gesamtgesellschaft.