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Fest der Künste

Franziska Baumann,

Gletscherklänge / Gletscher Klangstrom

Silvaplana, Trafostation, Montagehalle

1. September 2000

14.00 Uhr

 

Kein Ruf scheint zu schäbig, und sei es der des Gletschers, als dass der Soziologe zum Studium der Geschehnisse auf den Plateaus des Gesellschaftlichen sich nicht auf die Socken machen müsste: Ostermundigen ab 06.44 Uhr, Ankunft in Silvaplana 12.22 Uhr.

 

Wie der Gletscher beim Kalbern donnert und kracht, weil er nicht weiß, ob er sich der Kultur weiter aufdrängen oder sich von ihr zurückziehen will, scheint die komponierte Gletschermusik mit ihren Anhängern das Kalb machen zu wollen. Denn hat der Reiselustige zu Zarathustras Mittagszeit es aufgesteckt, im kabelfreien Silvaplana zwecks streng obligatorischer Reservation eines Sitzes zur abendlichen Weiterfahrt eine Verbindung mit Engadins Verkehrsdisponenten herzustellen und sich alsogleich auf die Suche nach dem Konzertsaal aufgemacht, wird er stetig mulmiger gewahr, dass sämtliche Anschläge und sämtliche Wegweiser, die mit dem Konzert in Verbindung zu stehen hätten, der klaren, durchsichtigen Engadinerluft haben weichen müssen. Nun denn, nachgefragt bei der hübschen Hotelangestellten geht es aufwärts die Strasse, kopfvoran zum Julier, und bald soll es sein zwischen den Kurven, eher rechts (wird ja kein Passrouten-Motorenkonzert gesucht). Vertraut und vertraulich die Zeichen Weiß Rot Weiß, noch einen Zacken zugelegt - alles geht uno poco presto. Kein Haus in Sicht, die Strommasten schon seit Zeiten zurückgelassen, und immer heimeliger wird es im Wäldchen, angenehm steil dem Wallis-Erprobten. Sorgen stellen sich keine ein. Bloß der nicht sogleich erklärbare Schimmer einer Hoffnung, die liebäugelt und mit dem Bildchen spielt, das Organisationskomitee des Festes der Künste tanze & springe mit Pauken & Trompeten den Hang herunter, frohgemut die Direktion an der Spitze, verarmten Fußvölkern Freikarten spendierend. Aus dem Wald steigt nur der Zuhörer selbst, ordentlich nun Höhe erreichend; die Häuser Silvaplanas sind klar doch klein in der schönen Ebene unten.

 

Silvaplana knapp vor Konzertbeginn.

 

Was tun, ausgesetzt in der weiten reizenden Landschaft? Ein Lamento anstimmen, mit Nietzsche pausieren, über Adornos Sputnikspaziergang witzeln? Nein, ein Anniviardenpfiff im That Kalyan wird ausgestoßen und lustvoll angesetzt zur tifigen Landschaftsentzifferung. Ganz neues Land, das Bündner Gugelhopf-Gebilde, noch ungelesen (vom blinden Nietzsche sei zu schweigen). Und ein Gletscher - Piz Bernina, Piz Scerscen oder Piz Roseg - lässt sich gar trefflich fotographieren!

 

Piz Roseg (nach Kümmerly+Frey 1:120'000)

 

[Am leichtesten fassbar wird der Unterschied Wallis:Graubünden vielleicht auf dem Niwen eingangs des Lötschentals, von wo man über zehn in sich geschlossene Einzelgebilde zu bewundern hat: Bietschhorn, Monte Leone, Fletschhorn/Weissmies, Mischabel, Nordend/Duffourspitze, Weisshorn, Zinalrothorn, Obergabelhorn, Matterhorn, Dent Blanche, Grand Combin, Mont Blanc. Solche Skulpturen, die sich sowohl voneinander wie von den tiefen Taleinschnitten abheben würden, sind im Bündnerland äußerst rar, mit Piz Buin und Piz Palü/Bernina mehr aufgesetzte Zierde und leckere Sommersugus als nahrhafte strukturelle Momente.]

Der Widerpart nach frischem Lauf am Bach ist attackierend eine Nötigung, Häuser, Villen, Residenzen, Paläste: nur Räuberhorte in beschämender Schönheit bis zum Kotzen, ich gehör nicht zu Euch, eintauchen ins St. Moritz und nach halbstündigem Schläfchen am See ab die Post 16.00 Uhr. No coda, Hausmeister Moritz, the concert is over.

 

Im Hintergrund Nietzsches Camp, dann Adornos Berghütte
- oder Stall, wie er mal das Hotel Waldhaus Lotte Tobisch beschreibt.

 

Der wunderliche Konzertbesuch, der weder Musiker noch Musikerinnen zum Vorschein brachte, bot nicht nur Visuelles; zu hören gab es einen singulären, von 13 bis 16 Uhr durchgehenden wandernden Wagnerflash im Stile des Heliotechno. Kaum zu glauben, dass dieses Werk der jüngsten Schweizer Musik in einem Rahmen, den auch die Engadiner Gemeinde- & Werbeprominenz mitbestimmte, nicht willentlich plaziert gewesen wäre.

 

Nein, nicht überflüssig der Ausflug, wenn es doch auch schade bleibt, dass die Frage immer noch keine Antwort hat finden können, wie die sträflich im Stich gelassene Künstlerin bloß auf die undurchsichtige Idee gestoßen ist, eine Gletschermusik im Feld der Kunst mit Anspruch auszukomponieren.