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Alex Demirović,
Der nonkonformistische Intellektuelle.
Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule,

Frankfurt am Main 1999

 

Dicke Bücher können vieles sein; gleich den dicken Menschen sagt diese Eigenschaft nichts über ihr Wesentliches aus. Bei jenen aber denkt man unweigerlich an eine Regel: dass das dicke Buch gewichtig ist, weil es einen Gegenstand entweder gründlich darstellt, zusammenfasst und voraussetzungslos in ihn einführt oder seine Entdeckung im bruchlosen Zusammenhang auseinanderlegt. Jedenfalls ist die Meinung gänzlich herkömmlich, ein Brocken an theoretischer Literatur hätte alles in sich einverleibt, was zu seiner Aneignung vonnöten sei. Dies ist beim großen Werk von Alex Demirović anders. Denn ungleich den bekannten geschichtlichen Darstellungen der sogenannten Frankfurter Schule oder Teilen daraus von Jay und Wiggershaus bis Steinert und Dubiel, die auf traditionelle Weise ordnungsgemäß ihrem Untersuchungsgegenstand thematistisch und mit einheitlicher Methode zu Leibe rücken, ist das Verfahren Demirovićs und der Charakter seines Buches radikal supplementär: weder löst es eine Problematik aus den Texten heraus noch wird eine empirische Geschichte neben ihnen dargestellt, sei es eine biographische oder soziale. Was zur Sprache kommt ist Hintergründiges, das die Struktur der Texte oder der Gesellschaft weniger grundiert als ihr hinzugeführt wird. Natürlich geht es nicht um Anekdoten; sondern in einem sehr präzisen Sinn geht es um die Dokumentation von Spuren der Intention, aus denen die Texte herausgewachsen waren wie auch von solchen, die ihre Veröffentlichung und Verbreitung begleitet haben. Wegen des einheitlichen Charakters der Texte, die gegebene Gesellschaft auch bei scheinbar entlegenen Thematiken zu entziffern und zu analysieren, ist das Begreifen der Intentionen nicht psycho- oder sozioanalytisch motiviert, sondern in dem Sinne politologisch, dass die Macht als Erscheinungsform der Gestaltbarkeit im Zentrum steht: die Texte haben nur insoweit Relevanz, als sie in einem Verhältnis zur Praxis stehen.

Schon früh in der Lektüre wird augenfällig, dass der politologische Blick auf die Theorie trotz der Fülle an Informationen, die er verfügbar macht und trotz der vollkommen durchgeführten Darstellungsweise die Akteure wie Ausreißbildchen aus vergilbten Dokumenten der Zeit erscheinen lässt – überaltert, reizlos. Leicht vorzustellen, wie ein Teenager, der dieses Stück als erstes aus dem weiten Bereich der Frankfurter Schule zu Gemüte führt, für eine geraume Weile die Nase voll hat davon – nicht wegen des trivialen akuten Überdrusses durch die pure Quantität; ebenso wenig weil der Autor mit einzelnen Formulierungen die Sache verdorben hätte (beileibe nicht, das Lesen gerät zu einem Vergnügen von A bis Z!), sondern weil der politologische Ansatz zur Deutung nicht mehr herausfordert. Die Leseatmosphäre ist nicht weit davon entfernt, als ob man dem Autor devot aus der Hand picken würde. Je stärker ein Gebilde in der Darstellung in sein Produktionsverhältnis eingebunden wird, desto weniger plausibel erscheint es als sprechend – und das heißt: Ansprüche erhebend – für die aktuellen Verhältnisse; je mehr historischer Kontext um die Texte herum Gestalt annimmt, desto wirksamer tritt der Mechanismus in Kraft, der die Biografien (als Werkkategorie) verunstaltet, ein Prozedere, in dem die Sache selbst a priori – immer schon – erklärt ist, weil direkt aus dem Handeln des Akteurs gefolgert. In diesem methodischen Mechanismus des politologischen Blicks erwächst ein Darstellungsablauf, in dem die Sache selbst nicht mehr als ein eigenständiges Gebilde zu erscheinen vermag, das nach nichts anderem verlangte als gedeutet – diskutiert – zu werden. Aber es betrifft diese fragwürdige Seite der Lektüre, die ganz ernsthaft nicht als Kritik zu missverstehen ist, nur „Propädeuten“ in der Sache, und die schrecken vor so viel bildlosen Seiten gewöhnlicherweise mit Anstand zurück. Das Problem erscheint demzufolge als Phantom, in seiner Existenz abhängig vom Betrachtungssubjekt, und mitnichten als Last des Buches.

Man empfindet den Titel Der nonkonformistische Intellektuelle als korrekt, und mokiert sich unweigerlich über das Konnotativ der Empfindung, abgestumpft, gar spießig zu sein, weil sich Sprache wie Gegenstand verändert haben. So ist nur an Horkheimers Satz zu erinnern, den er 1965 an einem evangelischen Kirchentag frohgemut zur Debatte brachte: „Nonkonformismus, Freiheit, innere Unabhängigkeit von den Tendenzen der Welt lassen in der Tat als christliche Momente sich begreifen.“ (Kraushaar 2, 200 / siehe unten) Das Wort der Nonkonformität hat sich deswegen verflüchtigt, weil heutzutage das Schrille und gestelzt „Selbstbewusste“ als Norm, gar reiner Zwang erscheint – und wo Widerständigkeit Gestalt annimmt, also von der Sache her alte Nonkonformität sich artikuliert, wird ihr gänzlich der Boden unter den Füßen weggezogen, indem die Intellektuellen (und diesmal sind die Frauen mit eingeschlossen)

  1. als Werbeagenten und Medienschaffende versklavt werden (diese Berufsgattungen gehören deswegen zusammen, weil die Werbung längst nicht mehr sich für Produkte des Marktes einsetzt, sondern Plattformen für Firmen in Szene setzt, deren Ideologie die Journalisten nur mit Strafe des Berufsverbots tangieren dürfen)
  2. als Prostituierte dem Weltenlauf zu Füßen liegen, schlüpfriger auf den Parketts der Politik als in den Bordellen
  3. in der faschistisch unterfütterten Sozialhilfe in den Selbstmord getrieben werden, weil die polizistisch ausführenden Organe zu dem einen Hauptsatz verpflichtet wurden, jeden Fürsorgekunden als Einzelfall, in dem alle Schuld an der Lebenssituation sich zusammenzieht, lösen zu wollen, obwohl jeder weiß, dass so lange keine Lösung der Massenarbeitslosigkeit zustandekommt, als die Parteiprogramme der euroamerikanischen Sozialdemokratie die strukturelle Abhängigkeit von den Produktionsverhältnissen leugnen, um den Verdacht, großen Zielen nachzuträumen, von sich fernzuhalten. (Eine realistische Einschätzung in den Parteiprogrammen, die mit der ungeheuerlichen Devise sabotiert wird, dass dann, wenn das Kleingewerbe serbelt es gelte, die Wirtschaft anzukurbeln und man noch mehr diesem elenden Zynismus den Boden zu ebnen habe, würde noch lange nicht die Strukturprobleme lösen beziehungsweise eine revolutionäre Stimmung evozieren, aber solche spezifischen Bedingungen nicht mehr länger a priori blockieren, welche Einrichtungen zustande kommen lassen, die approbierte aus einer späteren Zeit in sporadischen lokalen Formen vorwegnehmen: diverse Formen geschützter Arbeitsstätten und Diskussions- und Bildungsforen außerhalb des herkömmlichen Institutionenfeldes oder gewinnsüchtiger Apparate, außerhalb der kulturindustriellen Botmäßigkeit.)

Es ist klar: man kann nicht in jedem denkbaren Fall Historisches auf den Punkt der Aktualität hinbeziehen – aber es erscheint einem in der Lektüre doch als Mangel, dass die Transformation nicht der Intellektuellen und widerständigen KünstlerInnen bzw. Medienleute zuwenig thematisiert wird, aber der mikro- und mesosozialen Umstände, die deren Existenz nichts weniger als erstickt. Demirović bleibt etwas stoßend einer historistischen Einstellung verhaftet, da nicht explizit thematisiert wird, wie der heutige Intellektuelle, den er im Titel gewichtig doch herbeizitiert, gleich dem Komponisten Varèse einst ... refuses to die.

Obwohl das politologische Verfahren der Tendenz nach die Texte auflöst in kleinräumige soziale Umstände und im Extremfall in biographisch-persönliche Dispositionen, versteht sich Demirović vorzüglich auf die Kunst der immanenten Kritik. Um so auffälliger, wie in derjenigen Passage, wo es sich um die Metakritik der Erkenntnistheorie handelt, diesen doch sehr bedeutsamen Text Adornos, derselbe gewissermaßen durch eine unschöne Textmasche fällt. Auch wenn sich keine zeitgenössischen Kritiken dieser Veröffentlichung haben finden lassen, um mittels des Ansatzes der Rezeptionsgeschichte den Text selbst zur Diskussion zu bringen (wie das im Buch mit einigen Büchern formidabel geschieht), wäre der Autor nicht schlecht beraten gewesen, ihn wenigstens rhetorisch ein wenig abzusichern und nicht als Mahnmal einer Lektüre stehen zu lassen, die sich, wie es fälschlicherweise schlecht nun scheint, weniger um den Gehalt als um die Umstände ihrer Objekte kümmert. Doch auch wenn die immanente Lektüre unter Absehung des erwähnten Falles meisterhaft zum Zuge kommt, sind bezüglich des Gesamtwerkes des Autors die Aufsätze, von denen die meisten verzeichnet sind, mitunter deutlich unergiebiger als die Einzelthemen oder Beschreibungen von Einzelereignissen im Buch, weil sie weniger Argumentationen verfolgen und kritisch verdichten sondern die materielle Situierung nach außen stülpen, was eben, wie im dicken Buch gegeben, mehr Raum in Anspruch nähme als der Rahmen eines Aufsatzes zur Verfügung stellt.

Die Abwehrhaltung gegen den Auflösungsprozess der Kritischen Theorie in den politologischen Empirizismus verstärkt sich bei dem Beizug eines Werkes, das auf sonderbare Weise im gleichen Zeitraum entstanden ist, die gleiche Dicke hat (mit bauchplagend schwerem Karton verstärkt) und wie angetönt den gleichen Charakter wie dasjenige Demirovićs:

Wolfgang Kraushaar,
Frankfurter Schule und Studentenbewegung.
Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946 bis 1995,

Bd.1 Chronik, Bd.2 Dokumente, Bd.3 Aufsätze und Register, Hamburg 1998

(die vielen Fotos, die Aufteilung der Zitattexte in den Darstellungsband und zugleich den Dokumentenband sowie eine zusätzliche Aufsatzsammlung, bei der auch Demirović mit einem Beitrag vertreten ist, lassen dieses Werk dicker erscheinen als es die Lektüre erfährt).

Ein Vergleich der beiden Werke gerät leicht ins Geschmäcklerische, da beide des öfteren dieselben Zitate heranziehen. Nur bezüglich des Historismus erscheint einem das Werk Kraushaars, das im Titel doch mehr Dampf hat als die angerufene fromme Tugend Demirovićs, etwas stoßender, da es die Zeit der 68er als spezifisches Thema in den Griff zieht, die doch keineswegs als beendet zu betrachten ist, Demirović gewissermaßen eine längere, ausgefranstere Zeitspanne zu bearbeiten hatte. Eine wichtige Unterscheidung ist dies auch deswegen nicht, weil wohl keiner der Autoren dieses Manko als Intention vertreten würde. (Demirovićs Foucault-Phrase, „eine Theorie gilt immer nur für konkrete Akteure in konkreten Kontexten und spezifischen Auseinandersetzungen“ (510), ist ein performativer Selbstwiderspruch und angesichts der bewundernswerten Anstrengung des Werks Blödsinn.)

Mag der politologische Blick auf Theorie auch einige Irritation auslösen, setzt er doch Einsichten frei, die gerade Stubenhockern wohl bekommen, die bekanntlich nicht wenig das Maul aufreißen, wenn es darum geht zu bestimmen, wie die Dinge zu gehen haben. Indem rückhaltlos historisches Material vor Augen kommt, nehmen Perspektiven Konturen an, die gewöhnlicherweise nur durch Abstraktion von ihnen zum Zuge kommen – nun nicht mehr länger kritiklos, hilflos.

Weder Demirović noch Kraushaar favorisieren geschichtsphilosophische Konzepte, ganz im Gegenteil lösen sie komplexe historisch-gesellschaftliche Gebilde minutiös in Einzelereignisse auf. Aber es ist das von ihnen thematisierte Objekt, das insbesondere einem bei Kraushaar zuweilen aufstößt (aber nochmals: nicht am Autor liegt’s!), weil einem erst in dieser breiten Lektüre klar wird, dass das Handeln unter einem geschichtsphilosophischen Telos falsch ist. In einem solchen formiert sich nicht eine Macht gegen eine überalterte sondern entfaltet sich zwangsläufig die Phantasie der Allmacht. Es scheint recht eigentlich die Lehre aus der 68er Bewegung gezogen werden zu können, dass dem Objekt der aktuellen Geschichte genau gleich begegnet werden müsse wie dem der Erkenntnis: nicht frontal mit der Intention gerichtet auf die Totalität, sondern oblique mit der Hoffnung des „trotz allem“. Was nervt und die Perspektiven verändert in der neuerlichen Rezeption – in der Rückschau – ist keinesfalls das Feuer der Kritik, sondern die Aufdringlichkeit dümmlicher exklusiver Alternativen: politisch oder unpolitisch, theoretisch oder praktisch, dafür oder dagegen, intellektuell oder mehrheitsfähig, optimistisch oder pessimistisch zu sein, zu leben, sich zu zeigen.

Es muss umstandslos die Haltung, die metaphysisch von einem geschichtsphilosophischen Telos zehrt, unterlaufen werden, dass zu allem man diskursiv eine Lösung zu finden hätte (Habermas); um so mehr soll das, womit man sich befasst, verbindlich zur Darstellung geraten – auch wenn vielleicht dieses Gebilde zu anstehenden entscheidenden Gesellschaftsfragen scheinbar nichts beiträgt. Was aus der 68er Bewegung zu lernen wäre, besteht in der Übernahme und strukturellen Anordnung sämtlicher Einzelbestimmungen des Revolutionsbegriffs mit der zusätzlichen Forderung, dass dieselben als Themen zueinander in permanenter Variation stehen und dass die Idee der Revolution selbst – die Fahnen, Uniformen und Gewaltinstrumente – als kontrolliertes Tabu zu begreifen ist.

Das Riskante weil Lähmende fürs soziale Bewusstsein heute ist, dass die Herstellungspraktiken des individuellen Glücks, die viel mit dem Stand der Technologien zu tun haben, eben auch ganz eng liiert sind mit den praktischen Ideen einer befreiten Gesellschaft. Man muss hierin aktiv trennen so viel es geht. Noch die Sozialhilfeempfängerin und der Krüppel können in dieser Lebenssituation ihr Glück im Sinne von Arrangements bereiten, die ihnen wohl tun (ganz trivial in der Vielfalt des Konsums). Diese guten Momente der Lebenswelt haben indes rein gar nichts zu tun mit den bösen Folgen der Gesamtstruktur einer Gesellschaft, die man ändern muss, auch wenn alle vermeintlich ihr angehörigen einzelnen sich – zu Recht guten Gewissens – wohl fühlen.

Klar, das tönt speckig aufgetragen wie die Wattierung von Kritik. Aber man muss es immer wieder sagen, dass es eben doch die durchgestalteten Werke sind, an denen das Denken sich entzündet, und die weit ausgestalteten Werke von Demirović und Kraushaar enthalten sie nur als Supplemente, weil sie selbst ihnen gegenüber als Supplement dastehen: immer wieder anregend für solche, die mit den Werken vertraut sind, Rätsel weder lösend noch stellend für solche, die mit Kritik erst noch vertraut gemacht werden wollen. Wer in der Stimmung der Aktualität lebt und handelt und denkt, verhält sich distanziert zu abgelagerten Stimmungslagen, mitnichten aber im vorhinein reserviert gegenüber den Gebilden, die in diesen erwuchsen, wenn sie in der eigenen vermittelt diskutiert werden können.