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Mit Edgard Varèse über rostigen Geleisen

Forum Neue Musik, Luzern

27. 01. 01, Verkehrshaus (Schienenhalle)

Nachdem Pierre Schaeffers Etude aux Chemins de Fer (1948) als missbrauchtem dritten Begrüßungsbeitrag über die Sinnigkeit des Aufführungsortes, einer gleisschmalen Brücke mit knappem Platz für fünfzig Personen im Glashaus der Lokomotiven Achtung gezollt wurde, erklang Iannis Xenakis' Concret PH von 1958, dem der Raum in der Tat viel an Entfaltungsmöglichkeit noch beisteuerte. Das äußerst feinziselierte Werk ist zu unrecht in der Geschichte der elektronischen Musik schlecht plaziert. Der Prozess seiner fugatohaften Entfaltung, die Momentaufnahmen seiner kleinen Formen und die Stimmung des Klangbildes wirken so frisch, dass man über alle Bücher gehen muss, um der Verifikation des Entstehungsdatums zu glauben.

Viel Wärme macht sich breit mit den ersten, noch einigermaßen dilettantisch geschnittenen Tönen aus Edgard Varèses Poème Electronique (1958). Mag der Anfang auch unbeholfen erscheinen, zeigt sich im Verlauf des Werkes, das am selben Ort wie das Stück von Xenakis die ersten Male erklang, das nach wie vor Unerreichte sowohl der Konzeption wie der Intention, da die Mittel entschieden und auf ernste Verbindlichkeit pochende Weise so ins Gefüge gesetzt werden, dass in der großen Form - auch heute noch - eine neue Musik erscheint. Immer noch bewegt, wie aus dem Zusammenhang etwas Unerkanntes, etwas rätselhaft Singuläres entspringt, auch wenn die Technik der Einzelmomente objektiv verrostet ist. Wie greisenhaft erscheinen demgegenüber Stücke in hochpolierten Technologien, die dieselben reaktiv und geistlos als bloße Instrumente einsetzen, um mit schönen Melodien aufzuspielen.

Zum Höhepunkt des Abends geriet aber nicht ein Veteran der Maschinenmusik unter Veteranen der Schienenmaschinen, sondern ein Werk, das packendes Staunen auslöste und zu großer Hoffnung Anlass gibt. Charlotte Hug spielte auf einer klassischen Viola mit Funkmikrophon, den engen Raum des weiten Brückenlaufes optisch nutzend, Widerspiel, das 1998 von ihr selbst und von Martin Neukomm geschrieben wurde. Das Stück hat drei Schichten, die miteinander nicht interagieren, um so mehr aber sich aufeinander beziehen. Auf einem satten Teppich, den Neukomm realisierte und dessen Gewebe wohl einheitlich wirkt und so der Interpretin jede Freiheit offen lässt, nichtsdestotrotz intern explosiven, überraschenden Nuancen Gestalt zu geben vermag, liegt ein ebenso im voraus durchgestaltetes und fest fixiertes Netz von Bratschenaufnahmen, gegen das im Livespiel solistisch agitiert wird. Trotz der trivialerweise isolierten Schichten richtet sich die Aufmerksamkeit ganz darauf hin, welche Phrasen auf welche Schicht oder Schichten sich beziehen und welche von welch anderen abhängen: Da der Liveklang und derjenige des Bandes auch in der stetigen elektronischen Einflussnahme leicht auseinander zu halten sind, ist das Widerspiel in dem Verfolgen äußerst reizvoll, wie das gelebte Instrument sowohl den Ton angeben kann wie auch reaktiv den vorfabrizierten weiterzugeben vermag. Indem das Vorfabrizierte gestaltet werden konnte nur im Hinblick auf ein noch älteres, von einem anderen Komponisten hergestelltes, erwächst eine Komplexität, die in der reinen elektronisch-solistischen Interaktivität, die doch so unendlich schöpferisch erscheint, unmöglich wäre. - Zu meckern gibt es nur, dass erst dann das Luzerner Forum Neue Musik seinem Ziel nahe kommt, wenn das Abendprogramm allein von solchen Stücken, und dies nicht im kleinsten räumlichen wie zeitlichen Rahmen, bestritten werden darf.

Gerade das vorletzte Stück, das in der Programmliste deswegen nicht zu identifizieren ist, weil man aufgrund der scheinbaren Kälte der Aufführungshalle das Angekündigte sowohl gekürzt wie im Einzelfall ersetzt wissen wollte, geißelte metallisch und rostbrüchig in die Ohren, auf welche Weise und wie heftig Varèse auch jetzt noch der Zeit voraus ist. Auf einem festgelegten, spürbar elektronischen Klangmuster wird rhythmisiert, periodisiert, imitiert, wiederholt, gespiegelt und in Krebs gesetzt, klar, auch einmal Rummms und Wummms gemacht, als ob man Cedric Dumont beim Einstudieren von Honeggers Pacifique über die Schulter schaute. Da will einer elektronische Musik machen nicht weil es eine künstlerische Notwendigkeit zu meistern gelte, sondern um des Abkupferns willens vom sozialen Prestige. Kaum zu glauben, dass solcher Leerlauf den Maschinenkids beim Erstürmen der Uraltlocks im Verkehrshaus als Klangteppich genehm wäre: das Ganze ist weder als Musikstück akzeptabel noch als Struktur- oder Klangexperiment von irgendeinem Interesse.

Ein älterer Synthophonist (Herr Spoerri) spielte zum Schluss Not what it seems to be (1998), ein Potpourri (oder dann halt (k)eines...) simpler Weisen, indem er durch Veränderung der Handstellung und gleichwie der ganzen Körperhaltung auf visuelle Sensoren einwirkte, die ihrerseits abgedroschene Loops, wie sie jedes verwöhnte Kind vom gutausgestatteten Keyboard her kennt, in Gang setzen, variieren und durch neue ablösen - und dieselben Spoerri zuweilen mit Saxophoneinsprengsel ausmalte oder ihnen Akzente aufsetzte. Nicht wenigen juckte es im Fuß zum Tanze. Obzwar solcherart die Gefälligkeit des Spiels nicht abzustreiten ist, dürfte aufgeschlossenen Zeitgenossen dieser Programmpunkt auch in einem Raum frostiger Gleis- und Maschinenansammlungen sauer aufgestoßen sein. So wenig ein Kontinuum aus dem gelebten Alltag heraus bis in die durchgestaltete Theorie hinein sich herstellen lässt, so wenig ist der jazzige Auftritt mit der Aufführung verbindlicher Musikwerke vermittelbar. Natürlich ist das nicht gegen das Interesse der Jazzmusik gerichtet; ernstzunehmende Veranstalter aber sollen endlich mit einem erwachsenen wachen Publikum rechnen, das sowohl zeitlich wie vom Gehalt her mehr verkraftet als veralteten unterhaltenden Biedersinn.