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Inhalt

Niklaus Largier
Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung

München 2001

Die Zeit des Mittelalters ist in mehrfacher Hinsicht karg, in ökonomischer der einfachen Güterversorgung, im Organisationsgrad der Gesellschaften, in der Form der kulturellen Repräsentation, in der Produktion des Wissens und nicht zuletzt in Hinsicht auf die Verbindlichkeit dieser Wissensformen.

Niklaus Largiers Favorisierung einer Art Laisser Faire-Methode in der Darstellung der Geisslerbewegungen ist ihrem Gegenstand und den Umständen seines Erscheinens angebracht; das Resultat, die Fülle des Materials und seine schöne Lesbarkeit für uns, rechtfertigt das Vorgehen. Wäre das Buch vor knapp dreissig Jahren schon zur Verfügung gewesen, hätte es einem Debüttanten in Musikwissenschaft unschätzbaren Nutzen gebracht, den nun heute andere geniessen dürfen. Die Auseinandersetzung mit dem Entstehen der Tonalität führte einmal auch zu den Frottole und mehr noch zu den Laude um 1500, die am Endpunkt einer Tradition stehen, zu derem Kern auch die Geissler gerechnet werden dürfen. Doch wie hatte der wissenschaftliche Anfänger ein solches Umfeld zu verstehen, wenn es sich eingrenzt auf Italien und seine Darstellungen ausschliesslich im unverständlichen Italienisch gelesen werden müssten? Mit Notwendigkeit gibt er der Phantasie freien Lauf, um die Sache nicht nur als abstrakte dastehen lassen zu müssen, als eine ohne Sinn für uns. Im Resultat werden so die Laude, bieder einfache Lieder, zu einem Zug in der Geschichte, der nicht nur die Musik vorwärts bewegt, sondern auch im Gesellschaftlichen wie rudimentär auch immer etwas Progressives repräsentiert. Die Lektüre des Textes von Largier hätte dem Phantasieren den Romantizismus ausgetrieben, ohne den Bezug einer musiktechnischen Progression, die sich wie angetönt nota bene durch Simplifizierung in Gang setzte, mit einer sozialen Bewegung vom Tisch wischen zu müssen.

Trotz der Fülle des Materials steht das Buch mit einer Lücke da: War zu seiner Realisierung es denn so unbedingt nötig, der kritischen Vernunft aus dem Weg zu schleichen und nicht einem einzigen derjenigen AutorInnen Raum zu geben, die dem Phänomen der Geisslerbewegungen zu viel soziales Potenzial unterschoben, sei es von rechts als Volkstümlichkeit oder von links als Ausdruck sozialer Widerständigkeit? Warum folgt Niklaus Largier, und sei es auch nur um der wissenschaftlichen Kuriosität Willen, nicht einer einzigen dieser Fährten, die im Anhang als Studien über das Phänomen des Geisselns in erschlagender Fülle aufgelistet sind und die eben am Material plausibel zu machen vermöchten, dass von progressiven und anarchischen Elementen in diesen Prozessen von Prozessionen nicht die Rede sein kann? Mit wohlwollendem Interesse werden Leben und Wirken unzähliger Heiliger zur Kenntnis genommen, ein blosses Staunen stellt sich aber darüber ein, was denn alle diese Einsiedler angetrieben hat, so eifrig sich für eine Sache einzusetzen, wenn a priori ihr doch die Kongresswürdigkeit und also jeder tiefere Sinn abgesprochen wird. Der Stand der Populärwissenschaftlichkeit, wie ihn die schützende Hand des Verlages dem retardierenden Zug der Zeit folgend fordert, wäre durch eine vereinzelte, aber exemplarische kritische Auseinandersetzung gewisslich nicht aus der Fassung geraten. Mir scheint eher, dass man hier von einem substantiellen Zögern zu sprechen hätte, von einem nicht ausgesprochenen Wissen, dass einem Moment der mittelalterlichen Wirklichkeit mehr Sinn zugestanden werden müsste als nur äussere Theatralität, die mit dem Verschwinden des äusserlichen körperlichen Lebens auch ihre gesellschaftliche Sinnfälligkeit verliert. Zu dieser abwartenden methodischen Haltung steht der Buchtitel verquer wie ein falscher Paukenschlag. Was wäre da zu lobpreisen, dem der soziale Sinn abgesprochen wird, und von welcher Art Erregung wird eine Kulturgeschichte geschrieben, von deren Integration doch nur die desintegrierenden Elemente Erwähnung finden? Die Lektüre ist noch kaum in der Hälfte und wähnt unweigerlich durch das blosse Nichterscheinen kritisch substantieller Auseinandersetzungen ein sei es gewolltes, sei es ungewolltes Rechtfertigen vormoderner Herrschaftsmomente.

Die zweite Hälfte des Buches, die der Askese der mittelalterlichen Geisslerbewegung die erotomanische Besetzung der Peitsche in der Neuzeit, der Romantik und der Moderne entgegensetzt, bewegt sich ganz in der Sphäre dessen, was Hegel die Verdummung des Herrn im Luxus nannte. An die Stelle der Geschichten von Heiligen und über Heilige treten Anekdoten über Peitscher, Peitscherinnen und Gepeitschte - mit der Ausnahme eines Käsers von Klassen und Schichten ausserhalb des Produktionsprozesses. Nehmen wir es als Symptom unserer erstarrten restaurativen Zeiten, die einen Blick weg vom eigenen Bauchnabel als Wagnis erscheinen lassen, weil die herrschende politische Unvernunft nicht zögert, mit der Peitsche zuzuschlagen, wenn ihr Treiben zur Debatte steht.

Dem offenen Sinn, dass fromm ist, wer das Leiden Christi im Gegeisseltwerden nachahmt, liegt kein weiterer sozialer zugrunde. Fromm & geil werden dann im geschichtlichen Verlauf eines Sinnes, eine Kurzschliessung, die man in einer gewissen protestantischen Tendenz der Aufklärung zu machen pflegte und die den Anteil der Frömmigkeit nach Belieben auch völlig negieren lässt. Largiers Abstandnehmen sowohl von der klassifizierenden, wissenschaftseuphorischen Aufklärung wie auch von der kritischen Vernunft, die eingedenk der Dialektik der Aufklärung das Objekt der Erkenntnis in ein begriffliches Verhältnis setzen will, wirkt sich direkt auf den Gang der Lektüre aus, der in meinem Fall zäh und erregungslos sich ans Ende der Seiten schleppte. Keine Ahnung, was die weitgefächerte Inszenierung aller dieser vorwissenschaftlichen Stellungnahmen zum religiösen und erotischen Einsatz der Peitsche an Einsichten bieten soll - keine Ahnung, warum der Heilige James Joyce, der uns immer noch so viel Freude bereitet, als verklemmter Peitschenfreund lächerlich gemacht werden soll, keine Ahnung, warum das Peitschen gelobt werden soll, wenn man die ganze Zeit an die kopflosen, nichtsdestoweniger witzigen Worte übers Pfitzen des Herren einer unfreiwillig abgedankten Frau Bundesrätin denken muss. Das Buch ist langsam, und es ist noch nicht ganz angekommen in unserer Zeit, in der es weniger an Erregung mangelt als am Willen und an Durchsetzungskraft, das Leid, das durch falsches Erregen die Welt überdeckt, so gut als menschenmöglich von derselben abzutragen.

 

Schmidigehischere, 18. Juni 2005