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Inhalt

Wolfgang Lessing,
Die Hindemith-Rezeption Theodor W. Adornos,

Mainz et al. 1999

 

Der gesellschaftliche Gehalt der musikalischen Einzelwerke wie mehr noch der Tendenzen trennt auch die befürwortenden und ablehnenden Rezipienten in gesellschaftliche Antagonisten; sie stehen sich auch in gesellschaftspolitisch relevanten Fragen ablehnend gegenüber. Wer sich als Hörer von Nono zu erkennen gibt, braucht nicht zu erwarten, als Hinterwäldler eingeschätzt zu werden. Um so mehr erstaunt es, die wohl ergiebigste Darstellung des jungen Adorno bei einem Musikwissenschaftler zu finden, der ohne Abstriche zu machen hinter dem Werk Paul Hindemiths stehen will, auf einem ästhetisch-theoretischen Platz, der als Episode im Werk Adornos erscheint, gewöhnlicherweise aber nicht einmal in ablehnendem Sinne Bedeutung hat. Man hat es noch nie so einleuchtend und griffig zu lesen bekommen, wie folgsam Wiesengrund die Kategorien Ich und Welt seines antiexpressionistischen Gymnasiallehrers Reinhold Zickel (über den der alte Adorno einen Text verfasste mit raschem Publikationsstop, als er von der Nazigefolgschaft Zickels erfuhr) in den Analysen positionierte, auf welche Weise Schlussfolgerungen aus Lukács Theorie des Romans oder Einsichten Kracauers die Konstruktion der Texte fundierten ohne bereits als eigentliche Prägung eines widerspruchlosen Denkens begriffen werden zu müssen. Es ist eine besondere Qualität der Beobachtungen Lessings, im Detail einiges über die Quellen der Bilderlogik Adornos plausibel machen zu können, ohne die Widersprüche und Positionswechsel in diesen Texten über einen Kamm zu scheren. Nochmals: dass ein Kritiker Adornos so viel Einsichtiges aus dem nicht besonders einheitlichen Frühwerk Adornos ans Tageslicht schafft, ist keine Selbstverständlichkeit.

 

Obwohl Lessing bei der Darstellung insbesondere der Texte des frühesten Adorno – aber man darf dies auch bezüglich aller weiteren Adornopassagen festhalten – eine bemerkenswerte Sympathie kundtut, sind seine Urteile vehement: nirgends wäre das, was Adorno methodologisch proklamiert nachzuvollziehen, dass er die eigenen Überlegungen aus dem musikalischen Gebilde entnehmen und an demselben weiterentwickeln würde. Adorno zeigt nicht in der Musik, was er Hindemith vorzuwerfen habe. Aber sein Vorgehen erscheint nicht nur willkürlich, sondern auf verschiedenartige Weise auch bloß übernommen, übernommen von anderen Autoren wie Kracauer, Lukács, Benjamin und Bloch, übernommen aber auch einfach von früheren eigenen Texten mit anderen Gegenständen. Lessing betont, wie gerade „entscheidende inhaltliche Bestimmungen“ sich enthüllen als „Variationen andernorts entwickelter Reflexionen“ (23). Zu jeder Kritik Adornos an Hindemith konstatiert der Autor, Adorno vermöge nicht, ein innermusikalisches Kriterium anzugeben, wieso Hindemiths Musik abzulehnen sei. (197) Sein leierhaftes (aber nicht langweiliges) Vor- und Vergehen mit reflektierend, formuliert er: „Das dieser [Adornoschen] Denunziation zugrundeliegende Kriterium (nach dem, wie der Leser wohl feststellen dürfte, in dieser Untersuchung mit einer gewissen Insistenz geforscht wird) kann also keine Unstimmigkeit innerhalb des Werkgefüges [Hindemiths] bezeichnen (...).“ (198f) Des weiteren wird die Opernbesprechung von 1922 andererseits als zwar sachlich stimmig beurteilt, als eine Darstellung, die sich in der Musik wiederfinden lässt, im ganzen aber doch als unauthentisch zurückgewiesen, da sich sämtliche Überlegungen „als Reflexionen aus zweiter Hand zu erkennen geben“ (69). Zur sehr frühen Wagner-Kritik Adornos, die er in der Besprechung der Oper Die Hochzeit des Fauns seines Lehrers Bernhard Sekles ausbreitet (um das zu besprechende Werk mit nur wenigen Worten ins gleißende, aber schnell verglühende Spotlicht zu stellen), beobachtet Lessing: „Im Grunde genommen überträgt Adornos Wagner-Kritik die im Expressionismusaufsatz formulierten Vorwürfe lediglich auf ein anderes Objekt.“ (45)

 

Zur besonderen Qualität gehört die nicht selbstverständliche Beobachtung, dass der Text zu Schönbergs Pierrot lunaire als Ausnahme „in wesentlich stärkerem Maße als die vorhergehenden Texte (aber auch als der nachfolgende Hindemith-Aufsatz) Elemente enthält, die für sein späteres Denken konstitutiv bleiben werden“ (54). Es wird also nicht einfach der gängigen These, Adornos spätere Einsichten und Ansätze seien in nuce bereits beim jungen enthalten, die Antithese entgegengehalten, sondern mit recht scharfem analytischem Blick das aus den Texten herausgelöst, was Späteres sei es stützt oder stürzt. Dazu gehören als Zugabe die Beobachtungen bei späteren Texten Adornos, die frühere narzisstisch in ein schönes Licht rücken wollen: zuweilen interpretierte Adorno die früheren willkürlich, um seinen Positionswandel bruchlos als Deutung am Wandel des Deutungsobjekts ausgeben zu können. Diese Beobachtungen sind sehr sorgfältig formuliert, und in ihren Deutungen ist nicht die Spur von Ranküne auszumachen – man liest sie mit Gewinn, weil mit ihrer Hilfe gewisse Fragen weiterverfolgt werden können, auch außerhalb des Kontextes von Hindemith.

 

Um so größer das Staunen über die Position des Autors auf Seiten Hindemiths, einer Musik, die nach erneutem Durchhören von immerhin neun aktuellen CD-Einspielungen so erscheint, als könne sie wohl kaum einem weiteren MusikerInnenkreis als dem der Rockmusik zur Lehre gereichen. Hört er denn diese Musik ab und zu? Und interessieren sich die Ohren beim Zuhören? Man staunt. Denn wer heute beispielsweise die Zweite Sonate von Boulez sich anhört, macht unweigerlich das Erlebnis, dass die Qualität des Stückes darin besteht, in ihm zur brennenden Einsicht zu kommen (und das ist sehr ernst gemeint), dass neue und andere Werke nur dann gut sein können, wenn sie nicht hinter den Stand der Kunst zurückfallen, den dieses Werk ausdrückt. Diese Vorstellung oder Empfindung ist auch dann wahrhaftig, wenn der Hörer nicht angeben kann, worin denn eigentlich der Stand des Materials besteht, den das Werk suggestiv zum Ausdruck bringt. Ein solches Erlebnis ist bei den Werken Hindemiths ausgeschlossen, weil eben gar nicht vom Komponisten intendiert. Auf diesen Zusammenhang bezieht sich Adorno ohne Unterlass, und diesen Zusammenhang unterschlägt Lessing aus unerfindlichen Gründen. Vielleicht gehen sie uns nichts an – aber es sind sie, die ein sehr gut gemachtes und wertvolles Buch im Zwiespalt erscheinen lassen.

 

Hindemith ist gewiss nicht der wichtigste Komponist, der aus der geschichtlichen Versenkung errettet werden müsste; möglicherweise gibt es gar keine, bei denen das zu geschehen hätte (außer dem Fall von Werken einzelner KünstlerInnen, die noch nie haben zur Debatte stehen können). Aber das Buch von Lessing eignet sich vorzüglich zum Exerzitium, nach einem solchen es gelingen sollte, die anderen relevanten Einschätzungen Adornos ebenso minutiös nachzurekonstruieren, zu Webern etwa, demgegenüber immer noch keine Klarheit herrscht, glücklicherweise, zu Strawinsky, natürlich, immer wieder, zu Varèse, auf den Adorno via Schoen, Freund von Benjamin und Schüler des Komponisten in Berlin, eigentlich schon früh hätte aufmerksam werden müssen.