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Inhalt

 

Pascal Mercier,
Nachtzug nach Lissabon

München 2004

Peter Bieri,
Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens

München 2001

 

Nach Joyce und Arno Schmidt literarische Werke uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen ist schwer geworden. John Updikes Romane und Geschichten sind tadellos und öffnen EuropäerInnen eine wichtige Tür in das gewöhnliche Alltagsleben Amerikas, das die Soziologie nur wenig aufschlussreich erforscht. Man wird süchtig nach seinen Texten - und liest sie doch beinahe nur wie der Regressive Trivialliteratur. Obwohl sie in allen Facetten redlich sind und von der Vielfalt des Lebens in Amerika Zeugnis ablegen, sind sie doch gefiltert durch den Blick des Konservativen der oberen Mittelschicht, können also einen gewissen Schematismus nicht durchbrechen. Obwohl der Updikesche Konservativismus nicht nervend wirkt, ist er doch als ideologischer Zwang spürbar, der die Darstellung verzerrt. Sein befreundeter Antipode Philip Roth produziert in nicht minder anstehendem Fleiss Romane voll Dynamik, die einem gefühlsmässig näher stehen und noch radikaler einfahren, aber seine Sprache lässt er passagenweise so ranzig und abgestanden die Dinge dem Blick preisgeben, dass es einen dünkt, der Kunstwille würde förmlich vom Impetus, das Gesellschaftsleben Amerikas kritisch zur literarischen Form werden zu lassen, überfallen und schliesslich in der Flut des Fluchens und der Zoten weggespült.

Paul Merciers Nachtzug nach Lissabon ist mir während der Lektüre des öfteren als ein Werk aufgeschienen, das man den grossen neuen aus Amerika zur Seite stellen sollte, mit dem Hintergedanken, es würde sie überragen und könne als recht eigentliches selbständiges Nachfolgewerk in der Grösse von Joyce und Schmidt mithalten. Kleinere Unstimmigkeiten vermochten nicht, den Blick auf dieses faszinierende Stück Literatur zu trüben, dass einer das Internet nicht einsetzt, um Namen, historischen Ereignissen oder Telefonnummern nachzuspüren, dass Entscheide des Protagonisten nicht aus dem Gang der Geschehnisse plausibel erscheinen sondern konstruiert als Momente einer Formidee, die Kunst mehr verspricht als stimmig realisiert und in einer ausgeweiteten Vermittlung durchführt, dass Figuren auftauchen und wieder verschwinden, denen man ein Fundament in der Sachidee einfach absprechen muss, weil sie nur als Briefträger eine nebenläufige Botschaft abzuliefern haben. Es gibt in der Tat solche Bruchstellen, aber sie treten das Gefüge nicht im mindesten auseinander. Eher murmelt man in die Lektüre, dass es doch gut sei, dass einer den Perfektionierungswahn in die Schranken zu weisen den Mut aufbringt, indem er solche Schwachstellen stehen lässt. Denn von den erwähnten Momenten abgesehen ist das Buch ganz einfach eine Wucht, weil es versteht, allen bösen Fallen der Metaphysik und des Mythischen in der Kunst ein Schnippchen zu schlagen. Das alleine ist es, was es grossartig macht, Literatur frei vom Mythischen, und nur deswegen steht es singulär auf dem Feld der Literatur. Es zeigt Erfahrung, und nichts als Erfahrung. Einem gewöhnlichen Bürger stösst etwas zu, und er merkt auf. Er schaut auf das, was ihm passiert, und er denkt aufmerksam über dasselbe nach und über das, was ihm darin geschieht und was er dabei über sich selbst denkt. Weil er sich eher der Sache hingibt als sich selbst, können nun weitere Geschehnisse passieren, die eine nicht vorhersagbare Geschichte in Gang setzen, der man mit Spannung folgt, ohne dass man ständig mit der Nase darauf gestossen würde, dass es im Ganzen des Romans doch nur um das entfaltete Denken und Wahrnehmen des Helden ginge. Wir lesen Literatur, exceptionelle Literatur, die die engen Klischees des Mythischen hinter sich gelassen hat, ohne je argwöhnen zu müssen, die prinzipielle, also philosophische Möglichkeit dessen zu demonstrieren sei die Absicht des Autors, weil er doch beruflich ein ordentlicher Philosoph sei und kein Literat. Wir verfolgen keine Demonstration, sondern lesen mit nicht abzubremsender Gier kunstvolle Literatur.

Nach der Lektüre verwandelt sich das Buch. Es ist bekannt, dass die Realisierung avancierter Kunstwerke nicht in einem Feld geschieht, das auf gleicher Höhe durch Korrespondenz mit den anderen Künsten in einem Zusammenhang stünde: Joyce interessierte sich nicht für Schönberg und Varèse, sondern für den Biedermeier Schoeck; Schmidts Musikverständnis beginnt und endet mit Petula Clarks Down Town, sein Wissenschaftsverständnis begrenzt sich auf die infantile empirische Sozialforschung mit klar begrenzten Forschungsfragen (würde man endlich seine Werke als Ideal derselben einschätzen, wären die Dinge richtig gestellt); Schönberg dümpelte in der Seichtigkeit Rudolf Steiners und ärgerte sich paranoisch über Adorno; Zappa las nur Science Fiction (bekam aber noch als Siechender rote Ohren, als er mit Adorno in Beziehung gesetzt wurde) etc. Man muss fast sagen, dass mit der Ausnahme von Pierre Boulez alle KünstlerInnen Werke produzieren, die nicht zufrieden stellend mit dem theoretischen Umfeld oder mit den Nachbarkünsten in Beziehung stehen. Das macht solange nichts, als der Komplexitätsgrad der Werke die Aufmerksamkeit so an sich bindet, dass die Fragen nach ihren äusseren Verhältnissen als borniert aufgesetzt und nichtig erscheinen. Anders bei Pascal Mercier. Das Wissen, dass er Peter Bieri ist, lockt zu sehr, als dass die rezeptive Aufmerksamkeit aufs eigentliche Werk fixiert gelassen würde. Man will den doppelten Boden auskundschaften - und sieht sich alsbald vor einem gähnenden Loch in einen undurchsichtigen Raum schwadenhafter Unstimmigkeiten versetzt. Was während der Lektüre des Nachtzugs nach Lissabon als Bagatelle erschien, mutiert nun zu den aufdringlichen Gestaltungsmerkmalen und Gestalten einer falschen Theorie.

Können wir gewöhnlichen Menschen des Alltags behaupten, wir hätten einen freien Willen, und können wir verstehen, was dieser ist, der freie Wille, wenn wir gewöhnlicher Weise doch nur diejenigen Phänomene verstehen, deren Bedingungen wir erkennen können, die also nicht frei sind, sondern bedingt? Das ist das Thema des Buches Das Handwerk der Freiheit - Über die Entdeckung des eigenen Willens, und Bieri macht schnell klar, dass er nicht gewillt ist, Fragen der Schwierigkeiten des Verstehens nachzugehen, sondern klipp & klar herauszuarbeiten vorhat, wie "Freiheit" und "Wille" zu definieren sind, damit sie mit der genannten Vorstellung vom Verstehen harmonieren. Der Autor ist das, was ich seltsamer Weise in der Lektüre des Nachtzuges nicht wahrgenommen hatte: ein analytischer Philosoph. Dem herkömmlichen analytischen Philosophen, wie er in allen Philosophischen Instituten der euroamerikanischen Universitäten durch harte Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient, schwellt es die Brust, wenn er von der Schwierigkeit seiner Subtilitäten spricht. Allerdings ereignen sie sich in isolierten Begriffsdifferenzierungen, die sich nicht auf einen grösseren systematischen Zusammenhang beziehen. Das ist der Grund, weshalb einem diese Subtilitäten sich schneller aus dem zweiten Ohr verflüchtigen als sie beim ersten Widerhall zu finden vermöchten. Nur Adorno gelingt es, davon zu sprechen, dass eine fragliche Begriffsfinesse einen Unterschied ums Ganze bilde, weil in seinen Texten der Blick auf den Zusammenhang eben nie aufgegeben wird. Der tiefe Skandal der analytischen Philosophie besteht in ihrer Ignoranz des Ganzen und in ihrer Nonchalance dem Zusammenhang gegenüber. Wie weit dürfen aber das Understatement und die Subtilitätensüffisanz getrieben werden, wenn ein philosophischer Text noch ernst genommen werden soll? Man weiss bei Bieri oft nicht, wo er steht und wo er zu fällen wäre: er kritisiert zwar eine einzelne Position, diejenige der Vertreter eines Begriffs der absoluten Freiheit. Diese erscheint uns aber wie ein Sennentuntschi, ein Kunstgebilde aus Verzweiflung und ohne Kunst, mit dem abzugeben einem anständigen Menschen nicht ziemt. Je weiter Bieri im Vollzug der Kritik dieser Position vorankommt, desto dürftiger wird seine eigene. Das Buch mündet aus in ein Rinnsal guter Tipps, wie der brave Bürger den Glauben an seine eigene Willensfreiheit stärken kann, ohne den Blick auf die mittelmässige Wirklichkeit zu verschliessen. Gute Tipps geben für die persönliche Wellness - diesen Subtilitäten einen theoretischen Sinn abzugewinnen bedarf es der treuen Mitgliedschaft im engen Kreis der analytischen Philosophie, mithin der Aufgabe des freien autonomen Willens.

Der Mangel dieses theoretischen Buches, das sich im übrigen nicht so schlecht liest wie das polemische Urteil hier ahnen liesse, besteht in der Verkennung dessen, was sich der Mensch fragt, wenn es vom Gehalt her, also nicht nur formal, um das Thema Willensfreiheit geht. Nur in Ausnahmesituationen, bei denen ich keine Dringlichkeit verspüre, frage ich mich, was ich will und was meine Wünsche sind. Denn kenne ich diesen tiefen Schacht der Alpträume meiner selbst nicht allzu gut? Ununterbrochen frage ich mich aber, was zu tun ist. Was ist in einer gegebenen Situation angebracht zu tun; was ist das Beste hier zu tun; was lässt sich hier (noch) machen; worin besteht die Not dieser Situation... etc. Meine Freiheit besteht darin, das Notwendige überhaupt sehen zu wollen - es nicht also in Faulheit geschehen zu lassen. Und eine anständige Philosophie bestünde dann eben darin, der Frage nachzugeben, warum in einer Welt mit so viel Not so wenig Willen zu sehen ist, dieser Not entgegenzutreten. Und das ist das Anstössige an Bieris Philosophie, dass die Frage in diesem Zusammenhang, der nicht nur ein begrifflicher ist, nicht angeschnitten wird, warum gesellschaftlich die Frage "Was tun?" einen so schlechten Ruf hat, wenn wir angeblich freien Menschen den Willen, etwas zu tun, so tief in uns verankert vorstellen müssen. Um dieses Ganze ginge es, wenn eine Subtilität bedeutungsvoll sein wollte - wenn sie sich eben darauf, auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang und auf das Scheinhafte darin, das Ideologische, beziehen liesse. Mehr und mehr mutiert der launische Argwohn zur endgültigen Einschätzung, der Lateinlehrer im Kirchenfeldgymnasium zu Bern sei kein Gesellschaftswesen und kein freier und politischer Bürger, sondern eine private Idee Peter Bieris zur Unterhaltung Pascal Merciers. Für uns zum Nachdenken bleibt solcherart nicht mehr viel, weil im Roman nun jederzeit und an jedem Ort alles auch anders sich hätte entwickeln können, je nach Laune, im Jenseits künstlerischer Stimmigkeit. Es war schade, dass die Romanlektüre hatte ein Ende finden müssen - die Melancholie darüber hielt aber nicht lange an.