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Inhalt

Helga de la Motte-Haber

Musik und Natur.

Naturanschauung und musikalische Poetik,

Laaber 2000

Zum Dilemma auch derjenigen Wiederholung, die man selbst produziert, gehört, dass sie mehr ermüdet statt den Gehalt ihren AdressatInnen zu klären zu verhelfen. Seit mit dem Fall der Berliner Mauer das Schamgefühl in der kapitalistischen Reproduktion verschwunden ist, scheint Aufmerksamkeit gegenüber gesellschaftlichen Vorgängen, die das investierte Geld nach sich zieht, als alter Zopf einer überlebten Gesellschaftsform verlegen und abseitig in die Welt zu schauen. Nicht wenige gute Bücher sind in den letzten zehn Jahren erschienen; wo man in ihnen aber das Fragwürdige und Fehlerhafte, das selbstredend in allen steckt,  in den Begriff zu bekommen sucht, ist es immer dasselbe: mag das Buch noch so gelungen erscheinen und sich in der Lektüre materialreich und anregend zeigen - man forscht vergeblich nach der kritischen Vermittlung. Da wie wild drauflos produziert wird, durch Sammeln, Auflisten und emsiges Buchhalten, macht sich in ihnen selbst offenbar notgedrungen eine enervierende Nonchalance sowohl gegenüber dem, wovon sie sich absetzen wollen wie auch gegenüber der anderen, zukünftigen Seite breit, wohin sich das Aufgearbeitete, neu Durchgestaltete entwickeln soll. In den Büchern entsteht durch diese obszöne Ignoranz eine ungewisse Doppelbödigkeit, indem ihre Einzelmomente mit großer Spannung zur Kenntnis genommen werden ... gerade hinter derselben Spannung lässt aber ein morsches Gefüge das schale Gefühl der Skepsis zunehmend an Tiefe gewinnen und überführt es schließlich in eine kalte, abweisende Alarmstellung. Die entzündete, überdrehte Skepsis, die sozusagen aus dem Gefüge der Lektüre entglitten war, weil der Blick auf den zweiten Boden sie hochschreckte, ist keineswegs mit dem Gefühl der kritischen, wachen Aufmerksamkeit zu verwechseln, die noch so lustvoll den gelegten Spuren des Gehaltes folgen würde, sondern Ergebnis gewissermaßen eines Vertrauensverlustes, also überreizte Abwehr und abgestumpfte Langeweile.

So endlos im einzelnen die Verdienste des Buches über Musik und Natur von Helga de la Motte-Haber aufzulisten wären, im ganzen wirkt der Text als Beispiel positivistischer Weltabgeschiedenheit, die das Schlechte in den Sachen durch fromme Blickverengung auf die isolierenden Momente in den Gebilden tolerierend sanktioniert. Obwohl die ganze Arbeit mit Zurückhaltung nur deskriptiv gehalten ist, nimmt man zwar mit Spannung die vielen erstellten Bezüge zur Kenntnis, verliert aber im gesamten das Interesse, weil durchs Band die Naturbegriffe und alle musikalischen Intentionen in deren Umfeld gleichrangig erscheinen. Nimmt die Autorin einmal Bezug auf kritische Statements aus anderer Warte, zollt sie ihnen zwar Achtung, beurteilt aber ihre Kritik als obsolet. Durch solche Zurücknahme des kritischen Impulses lahmt die Lektüre, ein wenig, und die wiedergutmachenden Bemerkungen kommen auf Seite 238 entschieden zu spät. Es scheint das Wesen der Kritik falsch verstanden, wenn unterstellt wird, das Bewusstsein fühle sich dann gelöster, wenn es von ihr verschont würde - ist doch Kritik das einzige, wonach es giert, weil nur sie es lebendig macht und am Fortschreiten, am Verfolgen der Veränderung der Dinge, teilhaben lässt.

Und doch. De la Motte-Haber verfasste ein anregendes Buch, das man sehr gerne und mit wachsender Begierde liest, frappiert darüber, wie nicht ohne erhellenden Effekt in die Geschichte der Musik mit vermeintlichen Nebenbegriffen - wie mit dem der Natur - eingedrungen werden kann. Aber muss denn die Aufmachung und ihr zufolge der Preis so kostbar sein? Das Buch wird noch lebendiger und wirkungsvoller als Taschenbuch, meinethalben ohne Bilder. Das kritische Element, das jetzt fehlt, würde sekundär sich einstellen, wenn viele Stimmen, vom Luxus nicht abgedrängt, auf es sich zu beziehen vermöchten.

Zusatz:

Die Vorbehalte gegen die Autorin haben nur noch eine schmale Basis, wenn ihr Einsatz für das Werk Edgard Varèses berücksichtigt wird. Gerade weil das Buch in seiner Unfertigkeit und im scheinbar unbekümmerten Wiederaufnehmen bereits geäußerter Statements dem Erscheinungsbild der Varèseschen Musik so stark ähnelt, wirkt

Helga de la Motte-Habers

Die Musik von Edgard Varèse - Studien zu seinen nach 1918 entstandenen Werken, Wolke 1993

mehr denn als bloßes Studienbuch, beinahe schon wie die Erfüllung der höchsten Deutungsansprüche. Da diese Arbeit im Umfeld größerer Forschungsanstrengungen entstanden war, sind ihre Gehalte sowohl kritisch durchgearbeitet wie auch mit lohnenswerten Verweisen angereichert. Zu erwähnen sind das Symposion 1991 in Hamburg, dessen Beiträge de la Motte-Haber unter dem Titel

Edgard Varèse - Die Befreiung des Klangs, Wolke 1992

herausgegeben hat und die Arbeit von

Klaus Angermann,

Work in Process - Varèses Amériques, München 1996

(fertiggestellte Dissertation 1993, nachdem 1991 von demselben Autor die Erstfassung von Amériques wieder neu herausgegeben wurde), ein äußerst wichtiges Echo in deutscher Sprache auf

Jonathan W. Bernard,

The Music of Edgard Varèse, New Haven and London 1987,

das im Detail empörend schwierig zu verfolgen ist, in seinen Konsequenzen allerdings sehr einleuchtend wirkt und ernst genommen werden darf.

 

Es ist unvermeidlich, dass eine längere Lektüre über einen begrenzten musikalischen Gegenstand, das Werk Varèses - oder sogar nur Amériques allein - Strapazen zu erleiden hat, da sowohl der Griff  zur Partitur wie auch die Vergegenwärtigung der analysierten musikalischen Ereignisse vorausgesetzt werden. Zuweilen entsteht allerdings der Eindruck, wer die Musik von Varèse nicht ganz im Gedächtnis abgespeichert oder - pardonisiert mir das - sie nicht nur verinnerlicht hat, sondern verkörperlicht, auch diesen neueren Analyseversuchen nicht folgen kann, obwohl in ihnen doch nun schon sehr viel an kritischer Erfahrung eingegangen ist.

 

Man muss sich entscheiden, endlich. Soll auch in Zukunft demjenigen positivistischen musikwissenschaftlichen Weg gefolgt werden, der das Werk so weit analysiert, bis jeder Schlagerproduzent im Stile Varèse Pisse strömen lässt oder soll nicht peu à peu der inneren Tendenz nachgegeben und dasjenige diskursiv zur Sprache gebracht werden, das als das wesentliche Faszinosum des Werkes erscheint: dass die Weise des kompositorischen Fortschreitens nichts anderes verkörpert als das, was Adorno auf dem Feld des Begriffs im Spätwerk als negative Dialektik beschreibt (im frühen hatte es keinen Namen und funktionierte auch nicht genau gleich). Auch ohne die wirklichen Transformationen nachvollziehen zu können ist in der Varèseschen Musik zu erfahren, wie den Objekten innerhalb des vorstrukturierten, komplexen Gesamtzusammenhangs zu begegnen wäre ohne vorfabrizierten und ideologisierten Kategorienapparat, ohne willkürliche Verortung in einen Zweckzusammenhang - ohne aber auch jeglichen Verbindlichkeitsanspruch aufgeben zu müssen.

 

Mag sein, dass die Konstellation Varèse-Adorno historisch überlebt und ihr wechselseitiges Wahrnehmen durch die je eigenen Selbstverständnisse immer schon zutiefst verstellt war: Varèse war nie ein Freund des Begriffs und Adorno meistens nur soweit ausgerichtet aufs Antisystematische, als es sich irgend auf ein System beziehen ließ. (Dass er Varèse, den er durch Ernst Schoen doch schon in den Zwanzigerjahren hätte schätzen lernen können, immerhin in später Zeit ganz weidlich seinen Gedankengängen Zutritt gestattete, ist eine von vielen Ausnahmen, die seine Arbeit zieren.) Dennoch dürfen strukturelle Beziehungen weder durch die Fixierung auf isolierbare Vorgegebenheiten im Werk noch durch diejenige auf das enge biographische Umfeld sei es mit böser Absicht oder naiver Ignoranz ausgeblendet werden. Der Positivismus in Bernards Werk liegt vielleicht weniger in den schwierigen, zum Teil wegen den vielen erstellten Bezügen auch willkürlich anmutenden Kompositionsanalysen (man kann eine solche Arbeit wohl gar nicht besser machen, nur leichter, durch frivole Weglassungen) als im nur zu leicht lesbaren Einleitungskapitel zu Varèses ästhetischem Background, der jedes künstlerische oder kunsthistorisch relevante Statement für bare Münze nimmt, die sich tel-quel als ästhetisches Produktionsmittel investieren lässt - als hätte der ganze Theosophenquatsch, in dem die Reflexionen von Schönberg bis Kandinsky wie dumpfe Klöße in der Sauce schwammen, methodisch auch nur die geringsten Spuren in ihren Werken hinterlassen. Der singuläre Künstler arbeitet so eng (und meinetwegen selbstvergessen) am Material, dass die ästhetischen Bezugsfiguren - also die Sprüche aus der Kneippe - auch verquer zum Werk stehen können, quasi als Missverständnisse, gar nicht selten als liebgewonnene, die nur in einer narzisstischen Kränkung ernsthaft zur Diskussion gestellt werden können. Löst man sich aber sowohl von den historischen Einflussgrößen wie auch vom begrifflichen Erklärungszwang im kompositorischen Vorgehen, steht nicht mehr viel im Wege, um das Besondere von Varèse mit dem Besonderen von Adorno so zum Ausdruck zu bringen, wie man dieselben Besonderheiten in der Begegnung mit den Werken empfindet: einst als bloße Rätsel, heute als aufklärerische Potentiale, die allerdings nur dann wirken, wenn man sie selbst aktiviert - und dieses wäre, wie sowohl Varèse wie Adorno fast schon mit Starrsinn zeigen, eine ganz andere Reaktionsweise als die der Wiederholung.