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Inhalt

Klaus E. Müller,
Der Krüppel
Ethnologia passionis humanae

München 1996

Der Titel verspricht zu viel und sabotiert die Hoffnung auf das, was er als neue Wirklichkeit erscheinen lassen will, ein kritisch revisioniertes Bild von den Behinderten und über die Behinderten.

Man hat es mit einer mehr oder weniger wahllosen Anhäufung von ethnologischem Wissen oder sonstigen Willkürnotaten zu tun, wie etwa demjenigen, nach dem man "in der Schweiz [recte: im Walliser Val d'Anniviers] Kretins mit mongoloiden Zügen gar auf Hunneneinbrüche im 5. Jahrhundert n. Chr. zurückführte" (p. 43) - man tat dies erst im 19. Jahrhundert, nachdem ein Unseliger diesen Schmarren importierte. Alles geschieht in diesem Buch unter Verzicht auf theoretische Vermittlung und wird nur lose zusammengehalten in einer schematisch desto rigideren Form mit Teilen, die wie auf einem Kappellenweg abgeschritten werden. Nachdem der Krüppel als Phänomen des Alltags eingeführt worden ist, werden alltagspsychologische Gemeinplätze gestreift sowie ein paar Varianten ihrer Herleitungen, schließlich gesellschaftspraktische Vorurteile darüber, wie mit den so verstandenen Krüppeln umzugehen sei. Die ersten 70 Seiten sind vorbei, und man könnte das Buch schließen und die einzelnen Vorurteile, die verdankenswerterweise vorgetragen wurden, theoretisch zu kritisieren versuchen. Der Ethnologe hat anderes im Sinn. Er nimmt dieses ganze erste Kapitel und kehrt es um. Nun geht es in derselben Weise um die schöne Gestalt, wie sie erscheint, wie wir sie im Vorurteil uns erklären, durch was sie verursacht wird und wie sie die Gesellschaft begreift. Allerdings wird jetzt der thematische Raum des Schönen erweitert. Was für Mytheme lassen sich rapportieren über die schönen Raumformen, die schönen Plätze in einer gelebten Gesellschaft, die schöne Ordnung sowie die Rechtfertigung derselben? Der Raum der Gesellschaft erweitert sich zu dem der Welt: wie ist sie geformt, wie steht es um das Reich derer, die sie stören und wie versteht man diese Gesamtordnung in der eigenen gelebten Gesellschaft. In der Folge wird dieses Kapitel verdoppelt, indem nicht mehr die Beschreibungen, sondern die Erklärungsmuster der guten Welt, der schlechten Welt und der eigenen Welt referiert werden. Der Krüppel ist aus dem Kontext verschwunden, der nur noch Ordnungsräume beschreibt. Als letztes wird der Frage nachgegangen, wie sie zueinander stehen, wie von der einen Ordnung in die andere hinübergesetzt wird und wie aus der Verwandelbarkeit einzelner im Gesamtzusammenhang des Opfers die so beschriebene Gesamtordnung verklärt werden und als unsere Welt in Erscheinung treten kann.

Dass der Krüppel selbst gar nicht recht erscheinen will, ist ein eher kleiner, untergeordneter Mangel des Buches, nicht unerwartet einer Perspektive, die den ethnologischen Rahmen, umgekehrt als der Klappentext anmeldet, nicht sprengen will. Dies lässt sich schnell nachvollziehen in der Durchsicht des Literaturverzeichnisses, das wohl das klassische Repertoire der allgemeinen Ethnologie umfangreich vorführt, in ihm aber kaum 10% für Texte über Krüppel freihält. Schier unerträglich und physisch den Gewaltbereich mehr als bloß berührend ist aber der Umstand, dass das Buch die kritische Vernunft, also jegliche überhaupt, auf launische Weise diskreditiert.

Clowns bildeten in den alten, traditionellen Dorfgemeinschaften in der Regel eine feste, gewöhnlich sogar sakrale Institution. Das verlor sich allmählich in den differenzierteren, hochkulturlichen Gesellschaften. Sie "fielen" da gleichsam zunehmend "aus ihrer Rolle", behaupteten sich nur mehr auf der Bühne, als Hofnarren, im Karnevalstreiben und im Zirkus, gingen sonst aber ganz in der bunten Figurenvielfalt des randständigen "Lumpengesindels" und fahrenden Volks auf. Die rituelle Verankerung löste sich, erlag der "Säkularisierung" oder lebte vereinzelt noch in kirchlichen Festspielen fort. In der neuen Umgebung verwischten sich die Konturen, sprangen die Züge vom einen auf den anderen über. Clowns waren auch Akrobaten, Gaukler gleichzeitig Possenreißer, Bettler und "Zigeuner" sagten wahr, Narren posierten als "Propheten". Zu ihnen allen fanden schon früh auch entwurzelte oder wurzellose "Intellektuelle", wie Diogenes "der Hund" (4. Jh. v. Chr.), der Begründer der kynischen Philosophie, dessen kauzige Clownerien noch lange sprichwörtlich waren, im Mittelalter vor allem erfolglose Theologiestudenten und gescheiterte Geistliche, oftmals "als lotterpfaffen mit dem langen hare in einem Atemzug mit Spielleuten genannt", ferner Pilger "ohne reales Ziel", Wanderprediger, religiöse Schwärmer, Häretiker. 

In der gewissen "Akulturierung" des Äußeren scheint Tradition, wenn nicht Zwanghaftigkeit zu liegen. Auch später pflegten Künstler, Schauspieler, Philosophen, Propheten und Verkünder neuer, "revolutionärer" Lehren und Lebensweisen, die bei der Gesellschaft nicht den erhofften Anklang fanden und sich in Randbereiche versetzt sahen, gewissermaßen aus der Not eine Tugend zu machen und - bis heute bekanntlich - eine besondere Sorgfalt auf die Stilisierung ihrer Außenseiterrolle zu verwenden, sich in Lebensführung, Tracht und Gehabe auffallend unkonventionell zu geben, sich gleichsam zu "entstellen" und das verachtete "Spießbürgertum" (das ihnen die ersehnte Liebe und Verehrung versagte) durch möglichst schockierendes, gerade auch obszönes Gebaren, durch gezielte Tabubrüche, clownische "Happenings" und nicht zuletzt auch "kritisches Rügen" nach Kräften "herauszufordern". Dem Kopf kommt dabei, durchaus in der Polyvalenz von Begriff, Symbolik und Expressionsmöglichkeiten, eine "herausragende" Signalfunktion zu. Die englische Ethnologin Mary Douglas spricht in dem Zusammenhang von gleichsam gezierter "Zerzaustheit" als gewolltem Kontrast zur Konventionalität der "Glattgekämmten" und Protagonistik des Protests. Man könne geradezu sagen, "daß mit dem Maximum der <Zerzaustheitsmerkmale> ein Minimum von Bindung an die traditionellen Normen" Hand in Hand gehe. (p. 236f)

Diese Haltung ist nicht mehr weit davon entfernt, generell den Begriff der Kritik durch den des Ressentiments zu ersetzen, weil die pragmatische Vernunft, der Regulator der Globalisierung, früher oder später doch eh alles zu arrangieren versteht, zum Besten für die beste aller Welten.

Man muss sich ernsthaft fragen, ob den Sozial- und Kulturwissenschaften die Möglichkeit überhaupt gegeben ist, auf diejenigen Erfahrungshorizonte herabzusteigen, innerhalb derer diejenigen Ereignisse geschehen, die es endlich zu beschreiben gilt: das Leid nicht politisch sondern medizinisch, erfahren nichtsdestotrotz gesellschaftlich. Denn auf der pragmatischen Ebene entsteht kein adäquates Wissen, weil es um ganz anderes geht als um Geldströme und materielle Gegebenheiten, und ein Ungesunder erreicht im Wissenschaftsapparat diejenige Position nur ausnahmsweise, die ein systematisches Forschen erlauben würde.

Der Verlag tut dem Buch keinen Gefallen, wenn er es als Standardwerk ummäntelt. Von 300 Seiten sind knapp 70 interessant, der Rest erschlägt dieselben erbarmungslos. Dass in der Existenz des Krüppels eine praktische, moralische Idee verkörpert ist, die es gesellschaftlich zu entschlüsseln gilt, wird einmal mehr in den Dunstkreis des Ideologischen abgeschoben statt dem Rechtsbereich der Einsicht füglich angeboten. Statt die Summa eines Wissenschaftslebens genießen zu können, sieht sich das Lesen mit der Herausforderung konfrontiert, dem Sammelsurium seiner Resten einen Sinn abzugewinnen, der nicht zuletzt dadurch verstellt ist, dass sie selbst dreist einen unterstellen.