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Dieter A. Nanz
Edgard Varèse. Die Orchesterwerke

Berlin 2003

Das Werk überquillt in einer Fülle von Informationen, Beobachtungen, kritischen Vergleichen, Reflexionen und begrifflichen Konkretisierungen, wie man sie sich besser nicht wünschen könnte. Allerdings gerät die Musikwissenschaft mit der Verwirklichung des Ideals der ausgebreiteten Detailversessenheit bis über die Schwelle des empirisch begrenzten Rezeptionsvermögens. Obwohl die Klarheit des Aufbaus ungetrübt dasteht und die Analyseprozesse in einer deutlich artikulierten Sprache verfolgt werden können, will sich eine allgemeine Synthese im Urteil nur schwer einstellen, gleichwie auch in Einzelfragen man zuweilen nicht schlüssig wird, ob man die abgesicherte Meinung des Autors übernehmen oder nicht doch sich dem etwas strapaziösen Aufwand einer Kritik hingeben soll.

Wenigstens eine Stelle sei ausgeschrieben, Seite 309, wo der Materialbegriff Adornos so "diskutiert" wird, dass ein Nutzen für die Varèse-Deutung ausgeschlossen werden soll:

Die Materialien* umfassen chromatische, diatonische, hexatonische, oktatonische Elemente, Vierteltonkonstruktionen, Sirenenglissandi und adiastematische Schlagzeugpassagen. Diese Integration motivierte** eine Diskussion des Materialbegriffs. Im Begriff vom »musikalischen Material«, wie er von Theodor W. Adorno geprägt worden ist, wird Material mit historischer Notwendigkeit konnotiert: „[Die Zwölftontechnik] ist allein die bündige Formel technisch-immanenter Erfahrungen, die die Evolution des Materials durch Bewußtsein mit sich brachte [...]. Es muß also die Zwölftontechnik in Wahrheit für das Gegenteil von Mathematik gelten: für freien Vollzug des geschichtlich Notwendigen.“ (Aus dem Aufsatz »Zur Zwölftontechnik« aus dem Jahr 1929, in: Adorno, Theodor W. / Krenek, Ernst 1974. Briefwechsel, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 170. Zit. nach Sziborsky, Adornos Musikphilosophie, S. 93)
Diese Ausführungen implizieren eine Ideologie vom Fortschritt, wie sie auch in der folgenden Äußerung Adornos zum Ausdruck kommt: »Es ist, als hätte die Musik dem letzten vermeintlichen Naturzwang sich entwunden, den ihr Stoff ausübt […]. Mit den Klängen hat der Komponist sich emanzipiert.« (Philosophie der neuen Musik, S. 54 [recte: 55]) Nun wurde die Maxime der »Befreiung« als zentraler Leitspruch gerade auch von Varèse diskutiert. Im Rahmen des Adornoschen Konzeptes schließt »Befreiung« ein Paradox ein, das auch ihm selbst nicht entgangen ist: »Die Zwölftontechnik [...] fesselt die Musik, indem sie sie befreit.« (Philosophie der neuen Musik, S. 68) In einer Gegenüberstellung zu diesem Prinzip negativer Dialektik, das sich von der durchaus konventionellen Faszination des Intellektuellen am Phänomen des Paradoxes nährt, wurde die Methode von Varèse als Pragmatismus dargestellt. Fern davon, »seinen Stoff« – mit Adorno zu sprechen –»zu reinigen von der Verwesung des zerfallenden Organischen« (Adorno/Krenek 1974: 168. Zit. nach Sziborsky 1979: 91), verwendet Varèse in einer inklusiven Haltung der »Freiheit« alle Materialien, die einem spezifischen kompositorischen Zweck dienstbar sind. Seine Methode impliziert deshalb eine Auffassung der Geschichte als Kontinuität und ein Abseitsstehen von Fortschrittstheorien. Die Stoffe sind nicht »Material« im Sinne Adornos als vielmehr Werkzeuge, die zur Darstellung bestimmter Funktionen verwendet werden.

* in Varèse's Werk Amériques; Rez.
** S. 128-160 erscheint Adorno nicht; Rez.

Die Nachlässigkeit, Adorno hauptsächlich aus zweiter Hand über die Pädagogin Lucia Sziborsky zu zitieren und bei einem direkten Adornozitat die Nachweisseite falsch zu notieren, ermuntert geradezu die vorurteilsanfällige Lektüre, das Herbeizitieren von Adorno sei gar nicht so ernst gemeint, sondern ein blosser Spontangedanke, der im Sog des Fleisses mitgeschleppt aber eigentlich doch lieber im trockenen Abseits hätte wieder deponiert werden sollen. Denn aufs mal geraten die Dinge völlig durcheinander, und man fragt sich, ob solches immer noch der Intention des Autors entspricht, dass Adorno als Fortschrittsideologe begriffen werden müsste und Varèse als dümmlicher Musikant, der sich der veralteten Musikalien bedient grad wie es ihm passt. Hat er denn nicht deswegen so grosse Bewunderung und Wirkung ausgelöst, weil er das Melodiöse, Thematische, Klangliche etc. eben nicht als neutrale Instrumente verstanden haben wollte? Je ernster diese Momente der musikalischen Komposition genommen werden, desto flacher wird ihr Charakter als Werkzeuge tel quel und desto freimütiger geben sie ihr Potenzial fürs Aufstöbern neuer musikalischer Welten frei.

Auch ein bisschen mit abgesägten Hosen steht die Anleihe beim Strukturalismus da, den man doch mitnichten vom Romantizismus abtrennen darf, von der unaufhörlichen Feier einer ewigen Struktur. Lévi-Strauss wird partout als Jeansmarke mit einem y zitiert, und dass sich Varèse gegen die Etikettierung, ein Hersteller experimenteller Musik zu sein, mit Händen und Füssen wehrte (weil die Experimente zeitlich vor dem Komponieren gemacht worden seien), sollte da nicht mit einer Selbstanzeige des Skandalösen kokettierend vom Tisch gefegt werden, wo man ihn als Bastler Lévi-Strauss'scher Gnaden verbraten will, in einem Zusammenhang nota bene, der dem Bastler explizit den Ingenieur entgegenstellt, als den sich Varèse eben gerne hat sehen wollen: als Ingenieur und Wissenschaftler ganz im Sinne von Claude Lévi-Strauss, der durch Bewusstsein neue Welten schafft oder entdeckt, nicht als Bastler, der in einem abgeschlossenen Universum, im strukturalen und universalen Mythos nur dessen Momente umgruppiert. Diese Passage auf Seiten 189ff ist noch harmloser als die oben genannte, auf die sie vorbereitet, hat aber trotzdem die unangenehme Folge, der Fülle des Materials nicht mehr recht vertrauen zu wollen, wie sie es in den musikwissenschaftlichen Details sicher verdiente.

Not tut, dass das Radio, als wie ein Schrott es auch immer heute dasteht, den Autor auffordert, sein riesiges und kostbares Wissen über Varèse in einer siebzehnteiligen, je zweistündigen Sendung in allen Nuancen einer grösseren, sehr interessierten Allgemeinheit zugänglich zu machen.