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Marie-Andrée Ricard,
Die Transformation der Dialektik in den Chiasmus bei Adorno,
Diss. Tübingen 1993

So schwierig Adorno zu lesen ist und so gerne man in der Sekundärliteratur nach tragfähigen Stützen sucht, so groß ist die Enttäuschung in dieser und die Notwendigkeit des Lesens der Texte von ihm selbst. Das Werk der kanadischen Philosophin Marie-Andrée Ricard bildet eine rühmliche Ausnahme, indem es ruhig sich treiben lässt von allen Unstimmigkeiten, die so offen daliegen zwischen der negativen Dialektik und der spekulativen, und die nur wenige respektieren. Die These zielt darauf, den Begriff der Vermittlung, der selbst nach Adornos Bekunden alle Fragen der Dialektik zwar in sich schließt, aber dies letztlich eben auf nur unzulängliche Art und Weise, mit einem besseren zu ersetzen (Seite 7). Zu leisten hat dies der Begriff des Chiasmus (wie er oben im Eingangssatz vorgeführt wird), der in der Adornoliteratur, bei Jay, Rose und Brunkhorst als kaum mehr denn ein Stilmerkmal fungiert und den Ricard als Frage- beziehungsweise Lösungskomplex in die akademische Diskussion der negativen Dialektik neu einführt. Das frappiert, weil er doch hauptsächlich auf dem Feld der Heideggerschen Dispute im Einsatz ist, die Ricard mit keinem Wort zu würdigen Absicht zeigt. Mag der agrikulturelle Hintergrund des wie immer neuen oder alten Begriffs auch die scharfen Sinne des einen oder der anderen negativ reizen - nicht er allein ist es, der Jacques Derrida zur aufmerksamen Lektüre einladen sollte; das Buch enthält, wenigstens bis über die erste Hälfte hinaus, eine Fülle von Material und Beobachtungen, die auch den letzten Funken von Vorurteil gegenüber der negativen Dialektik, dieselbe sei doch nichts weiter als eine Variante der spekulativen und folglich dem Kategoriengefüge der Tradition näher stehend als zu verantworten wäre, auszulöschen vermag.

Das Zentrale des Chiasmus und des Begriffs der Vermittlung in ihm besteht darin, dass die Extreme nicht mehr als Gegensätze gefasst werden, sondern als Momente, die sich wechselseitig durchdringen (Seite 13). Diese Charakterisierung ist alles andere als neu, bezogen auf den Begriff und das Verständnis der negativen Dialektik bislang aber immer zu unverbindlich, um nicht zu sagen offenen Mundes behandelt worden. Denn keine Frage, dass eine Dialektik, die sich prononciert nicht am Widersprüchlichen orientiert, in der Analyse des Scheins von scheinbar Unmittelbarem andere Voraussetzungen zutagefördert als die klassische, die notgedrungen sowohl einen fixierten Anfang wie auch ein entscheidbares Ende postulieren muss.

Mehr oder weniger konsequent eingeschränkt auf die Werke der "Dialektik der Aufklärung", der "Negativen Dialektik" und die didaktischen Eigenexplikationen der "Philosophischen Terminologie" werden peu à peu die Momente der Adornoschen Theorie aufgerollt, die ihre Voraussetzungen und ihren weniger widersprüchlichen denn chiastischen Charakter zeigen sollen: Subjekt-Objekt, Begriff-Sache, Geschichte-Natur, Immanenz-Transzendenz, Mythos-Aufklärung, Identität-Nichtidentität etc. Völlig rechtens betont Ricard, und man darf das als die Transformation selbst verstehen, wie Adorno zwischen dem Begriff des Widerspruchs und dem des Ambiguen zu vieles im ungefähren lässt, so dass der erstere auch da die Erläuterungen dominiert, wo von der Sache her das Verhältnis gar nicht als widersprüchlich, sondern als offen mehrschichtig, mehrdeutig und komplex zu begreifen wäre (Seiten 76f).

In der Lektüre schwierig handzuhaben sind die dicht gesäten pro- und retentiven Verweise ("wir kommen später darauf zurück", "wie man aufgrund des früher Gesagten leicht einsieht"), die dem Text unnötigerweise den Charakter des bloßen Versprechens aufsetzen. Den Zug des objektiv Ungewissen und Ungefähren schuldet der Text weniger der unterlassenen redaktionellen Durchgestaltung, die die Verweise auch einer schnellen Lektüre eindeutig zu machen vermöchte, als der riskanten Nonchalance gegenüber einem zentralen Moment der Adornoschen Arbeiten, das Analyseobjekt niemals historizistisch außerhalb eines aktuellen Bezuges plazieren zu wollen. Die Konturen würden schnell griffiger und der Aufbau insgesamt stabiler, weniger durchbrochen mit der buchhalterischen Erledigung von Einzelthemen, die strukturell am Anfang erwartet werden, wenn entschlossener und rückhaltloser gegen das Falsche so quälend vieler Adornodeutungen argumentiert würde oder wenn, aber das käme einer lustigen Fahrt auf den Eisgipfel der kühnsten Hypothesenträume gleich, Derridas frostiges Schulterzucken gegenüber der negativen Dialektik im erweiterten Argumentationszusammenhang zum Thema gemacht würde. Im regressiven, überlebten Produktionsumfeld einer Dissertation ist solches nicht zu beanstanden, ist es doch gut immer schon, dass das Thema nun da ist und noch manch andre darüber stolpern mögen.