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Inhaltsverzeichnis

Musik und Geist beim jungen Adorno

1.7 Zwei Thesen

 

Die folgenden beiden Hauptteile orientieren sich an je einer Grundthese:

Nachforschungen an den Schauplätzen des jungen Adorno hatten zum Ergebnis, dass er sich dezidiert der Forderung widersetzte, Musik in einem analytisch-begrifflichen Vokabular bloß folgerichtig und folgsam wiederzugeben. Jedenfalls sind analytische Schülerarbeiten bezüglich der Musik, wie sie normalerweise jeder in Harmonielehre Unterwiesene zu erbringen hat, weder des Gymnasiasten, des Privatschülers von Sekles, des Musikwissenschaftsstudenten von Moritz Bauer noch des Kompositionslehrlings von Berg erhalten geblieben. Dadurch entfällt die ursprünglich rationalistische Idee dieser Arbeit, Adorno hätte als Musikschüler bereits – aus Gründen der neuartigen Beschaffenheit der zu analysierenden Werke – ein negativ dialektisches Vokabular benutzt, das er im Verlaufe der zwanziger Jahre, als er auch auf den Neukantianismus des Lehrers Hans Cornelius ausgerichtete erkenntnistheoretische Schriften zu verfassen hatte, verdrängte, bis es 1928 in ersten erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Ansätzen, insbesondere innerhalb der musikalischen Schriften, von neuem keimen sollte.

Wird nun aus Gründen der ernstzunehmenden jugendlichen Biographieentwürfe hin auf eine professionelle Komponistenlaufbahn diese Seite seiner Musikerfahrungen de facto ausgeklammert, so doch nicht die andere, die sich in den Musikartikeln der zwanziger Jahre zu dokumentieren vermochte (zu Lebzeiten legte Adorno auf diese Texte keinen großen Wert: vgl. die Vorworte zu den verschiedenen musikalischen Aufsatzsammlungen – sie sind also im Wortsinne Frühwerk, eine archäologisch aufzubereitende Fundgrube).

Die chronologische Lektüre dieser Aufführungs- und Werkkritiken soll verschiedene Nachweise erbringen. Zunächst richtet sie sich gegen ein Vorurteil, das Adorno fast jede Eigenständigkeit abspricht, um ihn als letzten Bürger, letzten Romantiker, melancholischen Idealisten, unsensiblen antirelativistischen Hegelmarxisten, verantwortungslos utopisch-autoritären Wissenschaftsfeind etc. der erweiterten Rezeption stetig unzugänglicher zu machen, in einem Dornröschenschlaf dahinvegetieren zu lassen.

a)  Die Negative Dialektik ist keine Variation der spekulativ-hegelischen. [1]

b)  Die Negative Dialektik ist nur in einem sehr schwachen, also trivialen Sinn durch Adornos Mentoren wie Kracauer, Bloch, Benjamin, Lukács und Horkheimer geprägt zu sehen.

c)  Die Negative Dialektik ist in ihren Motivierungen nicht nur von Hegel abzukoppeln, sondern auch von den Ideen der anderen klassischen Ahnen wie Kant, Nietzsche und Marx.

d)  Die Negative Dialektik steht ebensowenig unter den direkten Einflüssen, die sich an Eigennamen heften ließen wie Alban Berg, Paul Bekker und Hermann Scherchen. [2]

 

Dann aber soll die Lektüre zeigen, wie die Negative Dialektik vielmehr darin ihren Entstehungsgrund hat, dass Adorno umgekehrt schon seit Beginn seiner ersten Musiktexte die erst später formulierte bzw. geforderte Methode befolgte, Theoretisch-Begriffliches nicht empirisch festzuschreiben, sondern aus bereits Vorgegebenem, sei dieses selbst eine Theorie oder ein künstlerisches, vornehmlich musikalisches Gebilde, herauszulösen (über den genealogischen und strukturellen Zusammenhang der Kategorie der Nichtidentität in der negativen Dialektik und der seriellen Musik müssen die Hinweise oben im Abschnitt 1.6.4 genügen [3] ).

Was an diesen Texten adornofremd und unreif dünkt, bis in den August 1928, ist ihr Zusammenhalt in der Bedrängnis, das expressionistische Vokabular, dem sie schutzlos ausgeliefert scheinen, durch Selbstkritik von sich abzustreifen – 1928 wird die auf Schönberg fixierte Genieästhetik, die in der Wahrhaftigkeit des Künstlers ihr Motiv hatte (Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen), durch eine materialistische, antihermeneutische und antiphänomenologisch-geschichtliche Konzeption abgelöst, wodurch nicht nur der Expressionismus als Ganzes obsolet wird, sondern insbesondere auch sein zuweilen aufdringliches Vokabular, in welchem er quasi unerkannt auf lange Zeit hin wirkte: Ich, Seele, Schein, Natur, Welt, Geist.

Der Riss zwischen den musikalischen vorwärtsweisenden und den akademischen angepassten Texten in den zwanziger Jahren (Dissertation, erste gescheiterte und zweite angenommene Habilitationsschrift) ist dann so zu verstehen, dass die Lektüre der reiferen Werke optimiert wird, wenn sie die Musik miteinbegreift – paradoxerweise wird in dieser Berücksichtigung die Denunziation des melancholischen und realitätsfernen Bildungsbürgers entkräftigt – dass es sie aber in der Sache nicht verfälscht, wenn sie ausgeklammert wird. Es besteht zwar ein enger Zusammenhang in den Kategorien der reifen Werke in bezug auf alle möglichen Bereiche, aber ein kategorialer, notwendiger zwischen der Musik und den musikfreien Texten kann nicht bewiesen werden (wie es der Fall gewesen wäre, wenn begriffliche Musikanalysen des jungen Adorno hätten herangezogen werden können).

Man kann also nicht behaupten, dass es die Verdrängung einer Erfahrung ist, die gegen das Ende der musikkritischen Schriften – 1928 – gelöst würde, aber man kann sagen, dass diese Schriften durch eine Verdrängung geprägt sind, die sich dadurch auszeichnet, dass ihr eigentlicher Gegenstand auch nachträglich nicht eindeutig bestimmt werden kann. Ich würde die doppelte Deutung favorisieren, dass es einerseits technische Musikbegriffe sind, die verdrängt wurden (und meine, dass man des jungen Adorno offenbare Weigerung, Musik außerhalb des Rahmens einer kritischen Deutung zu analysieren, als Indiz dafür verwenden solle), dass es andererseits die Problematik des Expressionismus ist, die Adorno immanent – durch Verdrängung eben – zu verarbeiten „verstanden hätte“. In der Verdrängung bilden die negativ dialektischen Kategorien des Musikvokabulars und dasjenige des Expressionismus ein supplementäres Verhältnis: Wird das eine, das expressionistische, als obsolet durchschaut, so bietet sich das andere von alleine an. Dadurch darf an der anfänglichen Idee festgehalten werden, dass die Kategorien der negativen Dialektik eher dem musikalischen Bereich entstammen (auch wenn die Spuren der Genealogie unkenntlich geworden sind) denn, wie es bis heute üblich ist, als kühne Variation der idealistischen begriffen werden sollten.

Rückblickend zeichnen sich die musikalischen Werke der zehner und zwanziger Jahre, mit denen Adorno konfrontiert war – Bartók, Schönberg, Strawinsky – dadurch aus, dass sie auch heute noch in der Rezeption eine aktiv deutende Einstellung hervorrufen und von den Rezipierenden abverlangen, wenn sie auch in der Oberflächenwahrnehmung vom Schockhaften mehr oder weniger alles verloren haben. Umgekehrt haben die neuesten Werke, und zwar seit geraumer Zeit, die Tendenz, trotz großer Komplexität und beachtenswerter kompositorischer Präsenz nichts Rätselhaftes mehr zu enthalten, über das nachzudenken einen reizen würde. Gemäß Adorno ist es der Warencharakter, der dazu führt, dass die Gebilde, auch die im wissenschaftlichen, insbesondere sozialwissenschaftlichen Bereich, nichts mehr an sich haben, das sich deuten ließe. Der Verbreitung der Buchhaltung in den Domänen des Wissens entspricht der Konsum der Kunst als Ereignis im Freizeitangebot. Die Werke werden dadurch nicht schlecht oder schamlos kommerziell, aber auf doch anstößige Weise irrelevant. In diesem Kontext erhebt sich die geschichtsphilosophische Kategorie des Geistes, die keine bemerkenswerte Herkunft aufweist, sondern als blinder Passagier sich durch den weitläufigen Expressionismus hindurchzuschmuggeln wusste, als Widerstandspotential gegen den Warencharakter – wenn auch als wirkungsloses und, was zu zeigen sein wird, als falsches Wetterleuchten.

Es ist nicht tragisch, wenn Pierre Boulez sowohl gegen das dilettantische Komponieren wie gegen das dilettantische Ästhetisieren bzw. Soziologisieren einen neuen Weg zur Verbindlichkeit sucht und, wie an derselben Stelle des Aufweises der Falschheit des Geistbegriffs gezeigt wird, keine findet. Sein ganzes Drängen zielt daraufhin, bezüglich des Komponierens aus dem Pathos der Geschichtsphilosophie herauszukommen. Die Kritik von Boulez vergisst den realen Effekt der Warenstruktur: er denkt trotz allem noch geschichtsphilosophisch, statt soziologisch mit realen Kräften zu rechnen.

Denn was kann an einem Gebilde gedeutet werden, das der Dialektik von Entdecken und Wiedererkennen folgt? Inwiefern trotzt es den gesellschaftlichen, gar nicht immer so plumpen Vereinnahmungsstrategien? Zumindest im Sinne des frühen Adorno ist die Deutung auf die Dialektik von Konstruktion und Ausdruck angewiesen. Offengestanden ist Boulez' theoretischer Fehlgriff kaum mehr als eine Lappalie, und es wird nur gut tun, wenn für ein paar Jahrzehnte nicht die euroamerikanischen Komponisten im Rampenlicht stehen, sondern a) das Neue in ferneren Kontinenten, aber mit kritischem Blick auf den alten, heranwächst – wie die Darmstädter Ferienkurse 1992 hoffnungsvoll mit jüngsten Asiatinnen zu dokumentieren ansetzten – und b) in den Reproduktionsmedien (wie Radio und CD) vermehrt die seriöse, alte Musik aus fremden Gegenden, die Adorno bagatellisierte, zur Rezeption angeboten wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die zwei Thesen dieser Arbeit die Behauptung in Anspruch nehmen, die Kategorien der Negativen Dialektik hätten ihre Herkunft in der Idee der seriellen Musik, und Adornos Pessimismus hätte in der Prognose seinen Grund, dass die Gebilde am Ende der Epoche der seriellen Musik, wie immer diese zu nennen wäre und welchem Bereich jene auch immer entstammen würden, zu kritischer Deutung keinen Anlas mehr zu geben vermöchten. Erwachsen konnte diese Prognose nur im Zusammenhang der Ausarbeitung der Theoreme des jungen Adorno zur verbindlichen Theorie als Gesellschaftstheorie bzw. Negativen Dialektik, die sich selbstredend den düsteren Charakter derjenigen Gesellschaft nicht von den Schultern wischen kann, die sie trägt, weil sie in ihr geschrieben werden musste. [4]



[1] Ein jüngeres Beispiel aus der Geschichte der Fehlinterpretationen sei gestattet, Bolz (1992), 228: „Man hat vielfach bemerkt, dass Adornos nur fragmentarisch überliefertes Spätwerk, die Ästhetische Theorie, Züge von Altersstarrheit, Formelhaftigkeit und unelastisch gewordener Dialektik trage. Nun steht dem aber, bei Lichte besehen, gar kein eigentliches Frühwerk gegenüber. Die ersten philosophisch bedeutsamen Reflexionen Adornos schließen nämlich unmittelbar an Walter Benjamins Trauerspielbuch und Georg Lukács' Theorie des Romans an.“ Der Hegelianismus lässt sich wahlweise zum Theologismus steigern. Eine Seite vor dem Zitat schreibt der Autor: „Konsequent terminiert die Philosophie der neuen Musik in einer Christologie der Kunst. (…) Das moderne Kunstwerk besetzt die vakante Stelle Christi. Adornos letzte Philosophie ist eine Lehre vom ästhetischen Kreuz.“ Mit Adorno haben diese Statements nichts zu tun.

[2] Durch Finanzierungsschwierigkeiten in der Nachlassverwaltung ist es bis anhin immer noch unmöglich, die Bedeutung dieses außerordentlichen Musikers, der auch für den Direktoriumsposten am Hoch'schen Konservatorium nominiert war, ihn aber wegen ideologischer Zusammensetzung des Kuratoriums an Sekles abgeben musste (Cahn, 1979, 252), angemessen einzuschätzen. So scheint mir – aber ich habe dafür keine Belege – dass die Politisierung Adornos ohne Scherchen zaghafter vonstatten gegangen wäre. Vgl. Dümling (1987). – In Scherchen (1976) sind nur die Hälfte der erhaltengebliebenen Briefe abgedruckt; Adorno fehlt, aber auch Sekles. Der Berliner Scherchen hatte 1922 Wohnsitz im Frankfurter Vorort Kronberg, von 1923 bis November 1926 in Frankfurt selbst.

[3] Negative Dialektik und Serielle Musik haben beide als conditio sine qua non eine bis aufs äußerste problematisierte Kategorie der Wiederholung: Das Nichtidentische lässt sich in keiner idealen Wiederholung, d. h. in keinem Begriff repräsentieren – dennoch steht es im Zentrum der negativ dialektischen Aufmerksamkeit; serielle Musikstücke erheischen aus dem Grunde konzentrierte Aufmerksamkeit, weil in ihnen zwar an der Oberfläche tonrepetitive Gebilde dominant sein können, das Narrativ-Thematische aber, das leicht-fasslich nur in variierter Wiederholung Gestalt annehmen kann, bis zur Restlosigkeit zerstäubt wird.

[4] Wenn durch den verallgemeinerten Warencharakter das Deutungsmäßige in den Gebilden zu verschwinden droht, liegt es auf der Hand, dass eine allgemeine Ethik ihren Sinn darin zu fundieren hätte, als Handlungszwecke solche Gebilde zu produzieren, die zwar wahrgenommen werden können, sich aber keinem erweiterten Zweck unterordnen lassen. Weil in der Wahrnehmung Kritik aktiviert wird, liegt das Problem weniger in einem Ästhetizismus, dem der Boden der Wirklichkeit unter den Füßen ins Rutschen käme, als darin, dass auch eine solche Ethik an Allgemeinheit verliert, je mehr sie sich auf den Komplex des ens realissimum actualis besinnt, die eingangs angesprochenen Waffenhalden und Kapitaldrehscheiben.

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