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Inhaltsverzeichnis

Musik und Geist beim jungen Adorno

1.6 Gebilde (Adorno)

 

Der lange Abschnitt 1.6 folgt einer schwer überschaubaren Zickzacklinie. Das was Adornos methodologische Intention nicht ist, ist jetzt exponiert; das was Negative Dialektik ist, ist nicht das gestellte Thema – folglich geht es hier um den Dunstkreis ihrer Entstehung, der auch dann ins Auge gefasst werden kann, wenn berücksichtigt wird, dass eine Genese nicht bruchlos eine entfaltete Struktur zur Folge hat. Nach einem Rückblick auf Habermas werden diejenigen Elemente zusammengetragen, aus denen sich die Theoreme formulieren lassen, die die eigentümliche methodologische und erkenntnistheoretische Position des jungen Adorno ausmachen, soweit sie noch nicht in einer verbindlichen Theorie – der formal entfalteten Struktur als Gesellschaftstheorie, heiße sie Dialektik der Aufklärung oder Negative Dialektik – abgesichert sind. [1] In 1.6.1 werden Bemerkungen zur Logik des Zerfalls als der Frühform der Negativen Dialektik in systematischer Hinsicht versucht; in 1.6.2 wird die schizoide Trennung thematisiert, in der Adorno einerseits schülerhaft kantianische Akademiearbeiten verfasste, andererseits, und in ganz anderer Sprach- und Gedankenwelt, als Musikrezensent wirkte; in 1.6.3 wird kurz in historisch-biographischer Hinsicht auf die wichtige Jahreszahl 1928 hingewiesen, als die genannte Trennung aufgehoben wird; der Teil 1.6.4 versucht schließlich eine phänomenologische Grundlegung des musikalischen Erfahrungshorizontes des jungen Adorno, wie er das Besondere seiner Position ermöglichte und, etwas schärfer formuliert: bedingte.

 

Zunächst wieder Habermas: Wenn ausschließlich der propositionale Gehalt die Würde der Rationalität zugesprochen erhält, steht man immer noch im Reich der Metaphysik; nur schon durch das Moment der Zwanghaftigkeit werden fremde Kulturen disqualifiziert. Zudem sollte nicht zur Bagatelle gemacht werden, dass die argumentative Nötigung gerade auch in der Erziehung schlechte Konsequenzen nach sich zieht: Der in seiner Intelligenz Erschöpfte klammert sich eher an Irrationalitäten bzw. stürzt sich in Archaismen, als dass er die Befindlichkeit des Noch nicht Bewussten selbstkritisch verbessern könnte. Adornos Grundlage von Erkenntnis sind artikulierte Gebilde, mehrschichtig strukturiert und in verschiedenen Lektüren zu rezipieren – sie sind nicht in den Horizont der Geisteswissenschaften eingespannt, weil auch gesellschaftliche empirisch-statistische Phänomene begrifflich artikuliert und kritisiert werden können; indem sie gedeutet werden, erwächst aus ihnen rationale Begrifflichkeit, auch wo sie als Gesellschaftsphänomene irrational erscheinen mögen. Obwohl Adorno keineswegs mit irrationalen Theorieansätzen liebäugelt, ist das, was die Rationalität ausmacht, bei ihm nicht von der Irrationalität getrennt bestimmbar – ontologisch gehören sie zusammen, werden aber durch die Kritik und die Deutung desto entschiedener trennbar gemacht.

 

Habermas missachtet das, was in der Dialektik der Aufklärung die Grenzen der Aufklärung genannt wird: gelebte Archaismen in der technisierten Moderne. Er kann Wahrnehmung deshalb nicht thematisieren, weil er Bewusstsein nur als ein intentionales, d. h. auf Gegenstände bezogenes begreift. Bewusstsein schaffen als Stärkung, Schärfung oder Intensivierung des Wahrnehmungsvermögens kennt er nicht. In der kommunikativen Vernunft ist Aufklärung nicht ein politischer Prozess, der auf Dauer missglücken kann oder gelingen, sondern eine theoretisch zu beschreibende Ordnung oder ein Projekt – die Moderne – das noch nicht vollendet, jedenfalls, indem es noch nicht „vollendet“ ist, nicht so zu beschreiben wäre, dass es jetzt noch scheitern könnte. Wenn das Wahrnehmungsvermögen gestört ist – in Fällen etwa des aktuellen Rassismus – spricht Habermas analytisch vom Wirken systematisch verzerrter Kommunikation, durch die Kolonialisierung der Lebenswelt. [2] Das bedeutet beispielsweise, dass ein gewisses Individuum, das moralisch falsch handelt, seine Lebenswelt nicht clare et distincte durchschaut, und es ist Opfer geworden des institutionalen und ökonomischen Subsystems, das allgemein auf die Lebenswelt wirkt; aus diesem anzeigbaren Grund handelt es nicht dem versicherten propositionalen Gehalt gemäß, den es in einer argumentativ geführten Diskussion über sein Handeln doch seriös affirmieren würde. Das ist eine Mystifizierung der Aussagemodalitäten durch tendenzielle Reduktion auf Behauptungen. Habermas mystifiziert die Form der Aussage, die einmal ein Fortschritt war gegenüber der scholastischen Frage nach der Wirklichkeit von Einzelbegriffen, sich aber im Verlauf der Entstehung von Gesellschaftsfragen, die den Miteinbezug von Kontextualitäten erforderten, dem Vorwurf einer falschen Grenzziehung gegenübersah. Was einen Text als Kontext bedarf, lässt sich nicht auf individuelle Aussagen reduzieren. Sowohl Begriffe als Begriffe, die nicht ohne Metaphorizität gebraucht werden können, wie auch die Kontexte von Aussagen, die keinen Handlungsbezug implizieren, sind nicht Thema probandum der Diskurstheorie, die immerhin eine Gesellschaftstheorie sein will. Trotz seiner wohlwollenden Verteidigung des Begriffs der Lebenswelt bleiben so die kleinen und oft anarchischen Phänomene des Lebens, die dem ans Kapital gebundenen Militarismus trotzen und die sukzessive am Verschwinden sind, dieser Theorie unzugänglich.

 

Adorno seinerseits geht davon aus und akzeptiert, dass jeder Mensch vernünftig ist, und dass zugleich jeder im psychoanalytischen Sinn „defekt“ ist: es gibt kein normales Ich. Aber es gibt gestörte Wahrnehmung, und es gibt die Anstrengung, nicht gestört wahrnehmen zu wollen. Er rehabilitiert die bewusstseinszentrierte Intention des einzelnen. An der Kunst, aber auch sonst im Gesellschaftsleben kann sich ein Bewusstsein bilden, das progressiv und mündig ist, nicht aber immer sich zugleich auch adäquat zu äußern vermag. Bei Adorno sind nur solche Handlungen rational, die sich gegen die Irrationalität des Gesamtzusammenhangs wenden – die anderen unterstützen diesen, wo er denn wirklich irrational wäre. Deshalb apostrophiert Adorno Handlungen als irrational, die bei Habermas rational sind; umgekehrt können solche Haltungen, die eigentlich noch gar keine Handlungen sind und trotzdem der praktischen Vernunft des Individuums zugeordnet werden müssen – eben “Intentionen“ – bei Adorno rational sein, bei Habermas ein Nichts oder vorrationale Kontemplation, d. h. noch nicht rationalisierte. Sie sind der Kritik zugänglich wie alles, was sich als Gebilde fassen lässt.

 

Gebilde ist ein Oberbegriff, der in der Theorie nur scheu hat Platz nehmen können, gerade weil er im abseitigen Bereich der Musik eine so eminent zentrale Funktion innehatte. Zu denken ist an die Formel von den „thematisch ungreifbaren Gebilden“ (19; 11), Februar 1922, die ohne weiteres für das Grundmotiv des Denkens des jungen Adorno einstehen kann. In den diskursiven Texten erscheint er in den Begriffen Gestalt, Konstellation, Konfiguration, Figur, Gruppierung von Elementen, Fragestellung, Rätsel, Bilder etc. Neben wenigen Erscheinungen im Kierkegaard hat er in der zehnten der Sprachthesen einen wichtigen Auftritt: „Die sachliche Struktur eines philosophischen Gebildes mag mit seiner Sprachstruktur, wo nicht zusammenfallen, zumindest doch in einem gestalteten Spannungsverhältnis stehen.“ (1; 370)

 

Was heißt hier Philosophie; und was ist der ontologische Status dieser „philosophischen Gebilde“? Der Antrittsvortrag von 1931, Die Aktualität der Philosophie (1; 325ff), erläutert. Nachdem Adorno die Nietzsche-Haltung wiederaufgenommen hat, wonach keine „rechtfertigende Vernunft“ (325) der Wirklichkeit gegenüberzusetzen sei, charakterisiert er aktuelle Positionen: Der Neukantianismus der Marburger Schule favorisiert zwar immer noch ein geschlossenes System, verliert aber im Formalismus den Bezug zur Wirklichkeit; umgekehrt wurde die wirklichkeitsnahe Lebensphilosophie Simmels „psychologistisch und irrationalistisch“ (326). Die diesbezüglich in der Mitte stehende Schule Rickerts setzt statt der Marburger Ideen Werte „in eine wie immer auch fragliche Beziehung“ zur Empirie, „unverbindlich im Wirklichen, undurchsichtig im Geistigen“ (ebd.). Zu diesen drei Lösungsversuchen der idealistischen Philosophie gehört noch derjenige, der sich darauf bescheidet, bloße Einführungen in die Einzelwissenschaften durchzuführen.

 

Die Phänomenologie Husserls ist der Ausdruck des Widerstands gegen diese krisenhafte Situation: er behält die Autonomie des Geistes aus dem Idealismus bei, verzichtet aber auf die produktive Seite, die geschichts- und wirklichkeitsbildende. Zum Problem wird, dass die Wirklichkeit dieses Geistes farblos und leblos wird: gespenstisch. „Der Übergang in die `materiale Phänomenologie' ist nur scheinhaft geraten“ (328) – bei Scheler bleibt eine „Metaphysik des Dranges übrig“ (329), welchen Vitalismus Adorno schließlich auch Heidegger zuordnet, dessen Metaphysik des Todes im Auge (330).

 

So wenig es Adorno gelingt, Heidegger schlüssig von sich zu weisen, so wenig gelingt ihm dies mit dem Empiriokritizismus des Wiener Kreises: in der Kritik an diesen einander entgegengesetzten Positionen artikuliert sich seine eigene, seine eigene Vorstellung dessen, was Theorie zu leisten habe.

 

Das was die Wissenschaft ausmacht, ist Forschung; philosophische Theorie ist Deutung. Sie deutet nicht einen festzumachenden „Sinn“, weil es nicht die Aufgabe der Theorie ist, wirkliches als „Sinnvoll“ zu verklären (334). [3] Zudem weist die Idee der Deutung den Platonismus zurück: die Deutung sucht nicht nach einer Nietzscheschen „Hinterwelt, die durch die Analyse erschlossen werden“ (335) müsste.

 

Nun die berühmte, immer noch zitierwürdige Stelle:

 

“Echte philosophische Deutung trifft nicht einen hinter der Frage bereit liegenden und beharrenden Sinn, sondern erhellt sie jäh und augenblicklich und verzehrt sie zugleich. Und wie Rätsellösungen sich bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, während die Frage verschwindet –, so hat Philosophie ihre Elemente, die sie von den Wissenschaften empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen, oder, um es mit einem minder astrologischen und wissenschaftlich aktuelleren Ausdruck zu sagen: in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet. Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist (vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928, S. 9-44, besonders S. 21 und S. 33); eine Aufgabe, an die Philosophie stets gebunden bleibt, weil anders als an jenen harten Fragen ihre Leuchtkraft sich nicht zu entzünden vermag.“ (335f)

 

Nach zwei Hinweisen zum affirmativen Verhältnis der deutenden Theorie gegenüber dem Materialismus – Abschied von großen Fragen und Bezugnahme der Einzelfragen auch auf die soziale Praxis – formuliert Adorno noch einmal das Programm: „Liquidation der Philosophie“ durch „Ausschluss aller im herkömmlichen Sinne ontologischen Fragen, die Vermeidung invarianter Allgemeinbegriffe – auch etwa (den) des Menschen –, die Ausschaltung jeder Vorstellung einer selbstgenügsamen Totalität des Geistes“ (339) etc. Dies geschieht „in strengster dialektischer Kommunikation mit den jüngsten Lösungsvorschlägen der Philosophie und der philosophischen Terminologie“ (340; Hervorhebung U. R.). Die Kommunikation soll ihr „einzelwissenschaftliches Material“ – es gibt also verschiedene deutende Kommunikationsstränge: der Begriff ist nicht weit von Habermas entfernt – „der Soziologie (entnehmen), die kleine (…) Elemente auskristallisiert, wie die deutende Gruppierung sie nötig hat“ (ebd.). In dieser geht es um „Modelle, mit denen die ratio prüfend, probierend einer Wirklichkeit sich nähert, die dem Gesetz sich versagt, das Schema des Modells aber je und je nachahmen mag, wofern es recht geprägt ist“ (341). Die philosophische Deutung behandelt ihre Themen „durch eine (exakte) Phantasie, die die Elemente der Frage umgruppiert, ohne über den Umfang der Elemente hinauszugehen, und deren Exaktheit kontrollierbar wird am Verschwinden der Frage“ (342).

 

Was noch fehlt, bietet der Kierkegaard. Buck-Morss sagt darüber, dass die neugeschriebene Fassung insbesondere viel von Benjamin eingearbeitet hätte. Nachdem sie den Brief Adorno-Krenek vom 30. 9. 1932 zitiert hat, schreibt sie: „I have not seen a copy of the earlier version, but a comparison would document the development of Adorno's thinking during a crucially formative period, and answer just what stage of this development is reflected in the inaugural lecture. We can assume, however, that the later version was even more intensely influenced by Benjamin.“ [4] Diese Stelle enthält zwar den eigentlich Benjamin zugehörigen Begriff der Konstellation – seine wirkungsgeschichtliche Herkunft aber hat er bei Kierkegaard.

 

“Einzelmenschliche Existenz wird unter Konstellationen gedeutet, um Definitionen zu vermeiden. Was der bloßen Anschauung dunkel bleibt; was als Gehalt aus der transparenten kategorialen Form entweicht: dies Eigentliche will Denken aus den Figuren ablesen, welche dem Gegenstand vom Zusammenhang der zugehörigen Begriffe einbeschrieben sind, als deren Brennpunkt er zwar der Figur ihr Gesetz diktiert, nicht aber selbst auf eine der Kurven zu liegen kommt. Anders als Mathematik vermag Dialektik die Gesetze von Figur und Brennpunkt nicht bündig zu formulieren. Konstellationen und Figuren sind ihr Chiffren und ihr `Sinn', eingesenkt der Geschichte, nicht beliebig zu errechnen. Als Chiffrenlehre lenkt Kierkegaards Methode der Konstellation zurück zur Erscheinungsweise von Ontologie in seinem Denken.“ (2; 132)

 

Und abschließend die ersten Sätze dieses zwar leicht lesbaren, aber nur schwer zitierbaren Buches, das im nächsten Teil ausführlicher noch einmal bemüht werden wird: „(…) Das Formgesetz der Philosophie fordert die Interpretation des Wirklichen im stimmigen Zusammenhang der Begriffe. Weder die Kundgabe des Subjektivität des Denkenden noch die pure Geschlossenheit des Gebildes in sich selber entscheiden über dessen Charakter als Philosophie, sondern erst: ob Wirkliches in die Begriffe einging, in ihnen sich ausweist und sie einsichtig begründet. (…) Nur in der Kommunikation mit dem kritischen Geiste vermöchte es geschichtlich sich zu erproben.“ (2; 9)

 

Adorno nimmt deswegen methodologisch eine schwankende, nicht-eindeutige Position ein, weil er die Konstruktion, die Konstruktivität betont: exakte Phantasie. Es liegen also die Gebilde nicht wie die ästhetischen Objekte schön paratgestellt da; auch wenn er zugibt, Ästhetiker zu sein (1; 343), handelt die Theorie nicht tel quel von ästhetischen Objekten.

 

In drei Theoreme gefasst fordert diese „Theorie“, dass das zu deutende Phänomen, das mithin weder eines der Natur noch im engen Sinne eines der Ökonomie ist, in dreifacher Hinsicht geschichtlich situiert wird:

 

1.   Das Gebilde wird im selben Oberflächenzusammenhang, dem es angehört, aus der allgemeinen Geschichte herausgenommen und in der besonderen – zum Beispiel der musikalischen, soziologischen oder philosophischen – zeitlich und gegebenenfalls örtlich festgebunden.

2.   Diese Relativierung wird aufgehoben, indem das Phänomen, das historisch alt oder jung sein kann, als Erkenntnisproblem der Gegenwart gefasst wird, also antihistoristisch, wobei das Gegenwärtige zu problematisieren ist, insbesondere bei Adorno als Effekt der Warenstruktur. (Adorno hat außereuropäische Kulturen nicht adäquat zur Kenntnis genommen, vielleicht gerade weil 1927 eine große und viel diskutierte musikethnologische Ausstellung in Frankfurt, „Musik im Leben der Völker“, dilettantisch und tendenziös konzipiert war: zur fremden Musik verkommen war schon die französische und die russische. [5] )

3.   Die Begriffe der Erkenntnis bzw. der Deutung sind dem aktuellen Diskussionsstand der Wissenschaften (im allgemeinen Sinne) zu entnehmen und bezüglich sowohl des Diskussionsstandes wie des Phänomens zu problematisieren.

 

Eine wichtige Bedeutung hat der Begriff der geschichtsphilosophischen Situierung. Einerseits respektiert er, ungleich den Bemühungen des mittleren Adorno, die im dritten Kapitel kommentiert werden, die relative Autonomie des Bereichs der Phänomene; andererseits verlangt er sachlich-begriffliche Kompetenz, also das, was Sozialtechnologen abgeht. Man könnte hier, in Anspielung auf die Hervorhebung in einem zitierten Satz aus der Antrittsvorlesung sagen: geschichtsphilosophische Situierung und philosophische Deutung setzen, indem sie verschiedenen Fragebereichen folgen, kommunikative, d. h. Kompetenz in sachlicher Hinsicht voraus, ohne sagen zu müssen, welchen exakten Formalitäten sie zu gehorchen hätte.

 

1.6.1 Tatsache und Sinn

 

Adorno widmet bekanntlich in der Negativen Dialektik einen Paragraphen der in Zitatform gesetzten „Logik des Zerfalls“, die er, reichlich unbestimmt, in der Notiz als Konzeption bis in seine „Studentenjahre“ zurückdatiert. [6] Sie ergibt sich aus der Gegenüberstellung von Tatsachenphänomenen, deren Beschreibung der kantischen Wissenschaftslogik folgt, die die Urteile und Hypothesen als entweder richtig oder falsch ausgibt, und Deutungsphänomenen, deren Elemente keinem allgemeinen Gesetzeszusammenhang unterzuordnen sind und deren begriffliche Erfassung nie ganz gelingt, nie ganz misslingt; zum anderen hat sie eine Wurzel im expressionistischen Begriff des Risses zwischen der Welt und dem Ich und dem „beobachtbaren“ Obsoletwerden, d. h. realen Zerfallen der klassisch-romantischen Formen in der Musik. Begriffe wie Riss, Bruchstücke, Trümmer, Zerfall, zersetzte Objektivität der Formen und Erneuerung der Formen, Destruktion des Vorgegebenen und Destruktion der vorgesetzten Form sind seit 1922 im musikschriftstellerischen Vokabular Adornos nachweisbar. Ein Text aber, in dem exakt diese Formel notiert wäre, ist nicht publiziert. Man hat sich also auf das Bekannte zu beschränken: den Schubert von 1928 und den Kierkegaard, in der Annahme, dass gerade deswegen es für Entdeckungen – Erkenntnis – noch aufzuschließen sei. [7] Eine Einschränkung kann schon jetzt gemacht werden: die Zitate aus dem einen Text deuten einen Liederzyklus, die aus dem anderen eine Ontologie, was zur Folge hat, dass eine Übersetzung in methodologische, metaphysikkritische Theoreme keine Gewissheit aufweisen kann, die die Herkunft gänzlich vergessen ließe. – Ist es nichtsdestotrotz möglich, die Logik des Zerfalls zu formulieren, so bezieht sie sich auch auf empirische Tatsachen zurück, indem die Gesetzeshypothesen, die die Merkmale der Phänomene beschreiben, wie sinnhafte Gebilde, die in der Geschichte stehen, begriffen werden. Dadurch ist die Logik des Zerfalls tatsächlich eine Urform der Negativen Dialektik, also keine Konzeption die sich auf den Bereich der Ästhetik oder der Geisteswissenschaften eingrenzen ließe.

 

Kierkegaards Bücher sind für Adorno, der sie seit seinem ersten Aufenthalt in Wien 1925 studiert [8] , wichtig nur als Hegel- bzw. Metaphysikkritik, wenn auch gesagt werden muss, dass sie in jener Zeit en vogue waren und eine Bedeutung haben, natürlich, auch als ein Ursprung der Heideggerschen Ontologie und deren Derivate. Hegel missachtet in der Wirklichkeit das Gefühl im Einzelnen – es fühlt die Wirklichkeit Gottes – wodurch er die Wirklichkeit überhaupt missachtet. Kierkegaard seinerseits legt nun das Ganze ins Gefühl, aber unvermittelt mit irgendeiner historisch-sozialen Wirklichkeit, wodurch unbeabsichtigt der Einzelne in seiner Subjektivität vergottet wird: in sich selbst Gott zu suchen hat. Dieser Gegenentwurf zur Metaphysik ist in eine zusätzliche Lehre verpackt, nach welcher es drei Sphären der Wirklichkeit gäbe – der Ästhetik mit den empirischen Tatsachen und den ästhetischen Gebilden, der Ethik, der Religion. Diese bilden eine Hierarchie, die es durch den (dialektischen) Sprung zu überwinden gilt. Wenn ich das recht kapiert habe, ist nur die ästhetische Sphäre problematisch, das Verführtsein durch die Tatsachen und Bilder – die Ethik wird nicht groß diskutiert; der „Sprung“ aus der Ästhetik fällt schon ins religiöse Gefühl, die intentionslose Innerlichkeit: „Der Horror vor jedem spezifisch-historischen Gehalt konkretisiert sich endlich als negative Geschichtsphilosophie.“ (2; 55) Zu dieser Lehre gehören noch andere; wie sich leicht versteht, sind theologische Fragen aus ihnen schwer wegzudenken – und ich meine, man sollte die sporadischen kryptisch-affirmativen Bemerkungen Adornos zu Theologischem in diesem speziellen Kontext lokalisieren, nicht in seinem eigenen Ansatz oder den biographischen Begebenheiten. [9]

 

Die Logik des Zerfalls ist ein begriffliches Verfahren, das sich weder ausschließlich auf ästhetische Gegenstände bezieht noch selbst ein ästhetisches wäre:

 

„Selbst mit Hinblick auf eine endliche Konvergenz von Kunst und Philosophie wäre alle Ästhetisierung des philosophischen Verfahrens abzuwehren.“ [10] (23)

„Paradox wird das schlechthin Verborgene mitgeteilt in der Chiffre. Wie, nach Benjamins Interpretation, jegliche Allegorie, ist sie nicht bloßes Zeichen sondern Ausdruck. Sie gehört so wenig selber den ontologischen Urbildern an, wie sie in innermenschliche Bestimmungen sich auflösen ließe. Sie bildet ein Zwischenreich. (…) Den Bruch zwischen der unlesbaren Chiffre und der Wahrheit selber hat erst Geschichte gegraben. (…) Während nach jeder ungeschmälert theologischen Lehre Bedeuten und Bedeutetes im symbolischen Wort sich einen, spaltet bei Kierkegaard im Text der `Sinn' von der Chiffre sich ab.“ (40f)

„In ihr (sc. Kierkegaards Trauer) spricht sein Wesen eine geschichtliche Konstellation aus. Unterm geschichtsphilosophischen Aspekt ist Kierkegaard als psychologischer Einsamer am wenigsten einsam. Er selber steht ein für einen Zustand, von dem er nicht müde wird zu beteuern, er habe die Wirklichkeit verloren. (…) Nur Trümmer des Seienden rettet Subjektivität im Bilde des konkreten Menschen. In ihren schmerzlichen Affekten trauert sie als objektlose Innerlichkeit wie den Dingen so dem `Sinn' nach.“ (46)

„Mit dem historischen Sprung von innen und außen, dem Zerfall von `Totalität' aber prägt, als Diskontinuität, zugleich das mythische Wesen der ästhetischen Bilder sich aus. Ihr Bereich ist vieldeutig und kennt so wenig die scharfe Abhebung des Einzelnen wie den Zusammenhang des Ganzen. Es ist naturverfallen, ohne Treue, und zieht doch den Begegnenden in sich hinein.“ (96)

 

Im Paragraphen „Mythischer Gehalt“ zitiert Adorno sämtliche Stellen aus Kierkegaards Dissertation Der Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (erst 1929 auf deutsch erschienen), die sich auf den Komplex des Mythos beziehen. Kierkegaard beschränkt sich in seinen Bemerkungen ausschließlich auf die Platonischen Dialoge. Wenn es in den frühen einen Gegensatz zwischen begrifflicher Dialektik und bildlichem Mythos gebe, so schwäche er sich später ab, und das Mythische würde zum Bildlichen. Die diskursive Dialektik ist dann das Verlangen nach der Idee, das metaphorische Bild deren „fruchtbare Umarmung“. Das betrifft also das Verhältnis von Begrifflichkeit und Metaphorizität. Adornos Sätze dazu: „Dialektik hält im Bild inne und zitiert im historisch Jüngsten den Mythos als das Längstvergangene: Natur als Urgeschichte. (…) Mythisch ist bei Kierkegaard Natur als Urgeschichte, zitiert in Bild und Begriff seiner historischen Gegenwart.“ (80) Das bedeutet, dass die von Gott qua Sinn geschöpfte Natur, die an sich schon die Vergänglichkeit versinnbildlicht – auch etwa im Bild des jungen Mädchens, in dem der Neurotiker schon das alte Weib sieht (91) – in die Erkenntnis von Sinnphänomenen hineinspielt, die selbst keinen totalen Sinn verkörpern, weil der nur dem Schöpfer selbst zukommt. Als Erkenntnissubjekt steht der Natur das Individuum qua Geist entgegen. Von Mythos und Naturverfallenheit bewegt sich das Individuum dann weg, wenn es sich von den Tatsachen nicht gefangen nehmen lässt: realisierbares Ziel ist die „objektlose Innerlichkeit“.

 

Man sieht, dass im Gegensatz zu Hegel die historische und die Schöpfungsgeschichte in der Weise negativ sind, als die Natur keine Entäußerung des Geistes wäre, die es in einer aufsteigenden, totalisierenden Dialektik aufzuheben gelte – sondern durch sie herrscht das Moment des Zerfalls. Das ist für uns keine leichte Idee, wenn man an die Geologie denkt, aber auch keine absurde, wenn man an deren technische Aufgaben denkt: den Zerfall in der Natur in geordneten Bahnen ablaufen zu lassen.

 

„Die Schöpfung ist im Selbst auf Geist reduziert, das Selbst aus der Verfallenheit an schuldhafte Natur zu erretten. Da aber der Mensch als Geschöpf – so gerade, wie Kierkegaard als `existierend' ihn wider den spekulativen Idealismus stellt – in Geist nicht aufgeht, überwältigt Natur ihn dort, wo er Übernatur am festesten gesichert meint: nämlich im Selbst eben als einem absolut Geistigen.“ (114) Also herrscht ein Kampf zwischen Natur und Geist wie zwischen Natur und Selbst; dieses ist nicht bestimmbar, weswegen ihm letztlich zuviel zugemutet werden muss. Es hat sich „unvermerkt zum Schöpfer aufgeworfen. Damit aber den `Geist', welchen es für sich in Anspruch nimmt, zu sich herabgezogen und rückverwandelt in Natur.“ (116) In einer solchen „Ontologie der Hölle“ bleibt dem Individuum nur Schwermut, denn es scheint sich den Zugang zur Wahrheit selbst – durch sein Selbst – zu verbauen, je mehr es sich auf sich fixiert; und gibt es sich den Tatsachen hin, so verharrt es in Naturverfallenheit. Adorno: „Die theologische Wahrheit aber (…) wird von ihrer Chiffriertheit und Verstelltheit gerade garantiert, und der `Zerfall' mit den menschlichen Grundverhältnissen enthüllt sich als Geschichte von Wahrheit selber.“ (180) Und, zentral:

 

“Das Reich des Ästhetischen (…) empfängt seine Struktur aus den Bildern, die dem Wunsch erscheinen, nicht aber von ihm erzeugt sind, da er doch aus ihnen selber hervortritt. Zum Traditionell-Platonischen macht dies Bilderreich den vollkommenen Gegensatz aus. Es ist nicht ewig, sondern historisch-dialektisch; es liegt nicht in klarer Transzendenz über der Natur, sondern geht dunkel auf in ihr; es ist nicht scheinlose Wahrheit, sondern verspricht widersinnig die unerreichbare in der Opposition ihres Scheins; es eröffnet sich nicht dem Eros, sondern erstrahlt im Zerfall. Im historischen Zerfall der mythischen Einheit unmittelbaren Daseins; in der mythischen Dissoziation des historisch Existierenden. Die Gestalten, die hier sich versammeln, tragen die Erstickungsmale der objektlosen Innerlichkeit… „ Und nach einem Kierkegaardzitat: „Mit solchem Vorsprung des Wissens vor Existenz hat der Erkennende im Schein Anteil an Wahrheit, den scheinlose Existenz in ihrer leeren Tiefe niemals erlangte.“ (181)

 

Ob man es mit einer Tatsache aus dem Bereich der realen Natur oder einem Phänomen aus dem des ebenso realen Scheins zu tun hat, lässt sich nicht a priori entscheiden, weil dieses Verhältnis nur innerhalb der Geschichte Konturen anzunehmen imstande ist. Ein Deutungsphänomen liegt dann vor, wenn es sich nicht bzw. noch nicht in einen Gesetzeszusammenhang einordnen lässt und wenn es zugleich in einer gewissen Geschichtlichkeit wahrgenommen werden kann. Das heißt, dass Deutung es mit Phänomenen des Scheins zu tun hat, die in der Geschichte stehen und einen Sinn vortäuschen, der sich nicht innerhalb der Geschichte zu präsentieren vermag. Die sinnhaften Phänomene sind somit Gebilde, die niemals wahr sein können, weil ihre Form der Schein ist, dessen Unwahrheit aber doch durch Kritik wahrgenommen wird und so von der Wahrheit zeugt, indem die historischen Bedingungen seiner Unwahrheit aufgezeigt werden. Das Falsche an den Gebilden des Scheins darf nicht mit der Falsifikation einer Hypothese vermengt werden, da das Recht des wahrgenommenen Gebildes weiterhin in jenem Falschen gründet, wenn nunmehr auch durch Kritik in ein anderes Gebilde transformiert – in der alten Form obsolet: historisch obsolet, historisch überwunden.

 

Es ist wichtig, den Begriff des Zerfalls nicht mit Trauer über ihn zu konnotieren: „(Es) ist nicht das totale Selbst und sein totales Gebilde, sondern allein das Fragment der zerfallenden Existenz, bar allen subjektiven `Sinnes', Zeichen der Hoffnung, und seine Bruchlinien sind die wahren Chiffren, historisch und ontologisch in eins.“ (197) Noch deutlicher: „Durch Erinnerung wendet Phantasie die Spuren des Zerfalls der sündhaften Schöpfung in Zeichen der Hoffnung für die ganze, sündelose um, deren Bild sie im Schein aus Trümmern bereitet. (…) Ist die Geschichte der schuldhaften Natur die des Zerfalls ihrer Einheit, so bewegt sie zerfallend der Versöhnung sich zu, und ihre Fragmente tragen die Risse des Zerfalls als verheißende Chiffren. Darum bewährt sich Kierkegaards Meinung, dass durch die Sünde der Mensch höher stehe als zuvor; darum seine Lehre von der Ambivalenz der Angst, von der Krankheit zu Tode als Heilmittel. Mit seiner negativen Geschichtsphilosophie als dem Ausdruck bloßer `Existenz' bietet ohne sein Zutun eine positiv-eschatologische dem trauernden Blick des Idealisten in Verkehrung sich dar.“ (198)

 

In der Theorie geht es um die Bedingungen der Möglichkeit verbindlicher Darstellungen, ohne auf Lehrhaftes zurückzugreifen. Was dargestellt wird, ist die dinghafte Objektivität im Bereich der Natur und objektiver Sinn da, wo Eingriffe durch Kultur schon passiert sind. Dem Sinn in seiner Totalität und Ungebrochenheit entspricht der Ursprung des Objekts, als Moment vor dem Zerfall. Da die Gier nach ihm nur metaphysisch möglich wäre und in Wirklichkeit das Ziel verfehlen muss, weil dieser Grund des Objekts sich in seinem Streben nach ihm als puren Abgrund enthüllt, nennt Adorno diese Logik der Darstellung die Logik des Zerfalls. Begriffe und Bilder, die den Sinn darstellen, sind folglich eines ruinösen Charakters, und zwar in dem Sinn, dass die Bedeutungen der Begriffe Ruinen gleichen. Die Bedeutungen der Begriffe und Metaphern sollen vom Sinn sprechen, zeugen von ihm aber nur wie Ruinen von einer überlebten Struktur, von einer verfallenen Zeit. Deshalb ist auf ihr Ungenügen, das auch darin bestehen kann, dass sie zuviel bedeuten wollen, mehr zu achten – durch Kritik – als auf ihr (positives) Versprechen.

 

Für die Geschichte steht der Begriff des Geistes. Er ist nicht dasselbe wie Sinn, da er der Versachlichung zuwiderstrebt, wie sie der Sinn in der Bedeutung der Begriffe zulässt. Denn Geist hat die Konnotation Autonomie, das heißt Autonomie vor dem Naturzwang. Ganz dem Sinn entgegengesetzt, zielt er nicht auf Ursprünglichkeit, sondern auf Zukunft, bezüglich der wahrnehmbaren Gebilde auf Versöhnung mit der Natur, in welcher die menschliche Geschichte passiert. Folglich besteht eine gewisse Nötigung, von Geist zu sprechen, wenn geschichtliche Gebilde kritisiert werden sollen. Denn ohne ihn könnte von einem Gebilde nur gesagt werden, ob es in sich stimmig sei – durch begriffliche Kritik – und quasi supplementär, ob es mit der Intention nach Fortschritt respektive Freiheit vom Produzenten produziert worden sei. Die Struktur aber der Intention ließe sich nicht weiter kritisieren: die Intention wäre bloße Meinung, abstrakt, relativistisch, unbegründbar – also irrational. Mit dem Begriff des Geistes aber kann die Intention näher charakterisiert werden. Es kann die Frage gestellt werden, wie denn nach Freiheit gestrebt wird, in dem zur Debatte stehenden Gebilde, sei es ein Kunstwerk, eine Theorie oder eine politische Praxis. Ungleich dem Begriff der Freiheit ist der des Geistes nicht unvermittelt mit dem Sinn und den Bedeutungen, da diese nicht auf die Materialität der Begriffe und der Schrift reduzierbar sind. Wenn sie Sinn erfassen wollen, so immer auch schon, wenn auch nur der Spur nach, Freiheit und Geist. Dessen Bestimmung ist nicht einfach Freiheit, sondern Loslösung von Naturhaftem (das kann vom Sinn nicht gesagt werden, versteinert sich in ihm doch gerade zweite Natur). Also ist Geist auch eine voluntaristische Kategorie, nicht zu entkoppeln von einem gewissen Willen zu Autonomie und einem verbindlichen, selbstbewussten Zustand ohne Naturzwang: Freiheit durch Beherrschung der Natur im Zuge der geschichtlichen Entwicklung von Produktivkräften, die Freiheit garantieren, indem sie die menschliche Reproduktion – das Gesellschaftsleben im ganzen – von Naturzwängen befreien. Geist aber als aktive Beherrschung der Natur ist in diesem Fall nichts anderes als die Geschichte der Formen der Beherrschung: sei es von Natur, von anderen Menschen oder des individuellen Selbst.

 

Die Stellen aus dem Schubert dienen jetzt nur noch der Bestätigung der Aufzählung Elemente der Logik des Zerfalls, ihre Arbeit mit Bild und Begriff, Einheit und Konfiguration, Wahrheit, Geschichte, Natur, Schein und Subjektivität:

 

„Nicht bildet der Lyriker im Gebilde unvermittelt sein Gefühl ab, sondern sein Gefühl ist das Mittel, Wahrheit in ihrer unvergleichlich kleinen Kristallisation ins Gebilde zu ziehen. Nicht fällt Wahrheit selber ins Gebilde, sondern stellt sich dar in ihm, und eine Enthüllung ihres Bildes bleibt Werk des Menschen. (…) Das Bild der Wahrheit aber steht allemal in Geschichte. Die Geschichte des Bildes ist sein Zerfall: Zerfall des Scheins von Wahrheit all der Gehalte, die es von sich aus meint, und Aufdeckung seiner Transparenz zu den Wahrheitsgehalten, die mit ihm gemeint sind und rein erst in seinem Zerfall hervortreten. Der Zerfall des lyrischen Gebildes nun ist der Zerfall seines subjektiven Gehaltes zumal. (…) (Bleibend) an lyrischen Gebilden (sind) nicht (…) konstante menschliche Grundgefühle, an die im Ursprung des Kunstwerks jeweils jene Gefühle, die vergänglich sind, rührten; die subjektiv vermeinten und reproduzierten Gehalte indessen haben das gleiche Schicksal wie nur die großen materialbestimmten Formen, die die Zeit erweicht. Der dialektische Aufprall beider Mächte: der Formen, die in trügender Ewigkeit aus den Sternen abgelesen werden, und der Stoffe der Bewusstseinsimmanenz, die als unableitbare Gegebenheiten schlechthin sich setzen, zertrümmert beide und mit ihnen die vorläufige Einheit des Werkes: eröffnet das Werk als Schauplatz ihrer Vergänglichkeit und legt endlich frei, was an Bildern der Wahrheit zur brüchigen Decke des Kunstwerks sich erhob. Heute erst ist der Landschaftscharakter von Schuberts Musik evident geworden…„ (17; 20)

„Nur dann ist ihnen (sc. den Potpourris) Chance zu geben, wenn jene Einheit nicht selber eine subjektiv erzeugte war, die im Glücksspiel nimmer sich heimbringen ließe, sondern wenn sie aus der Konfiguration der getroffenen Bilder aufsteigt.“ (22) „Jene Transparenz, für die das Kunstwerk mit seinem Leben zu zahlen hat, eignet den Kristallen der Schubertschen Landschaft. Dort ruhen ungeschieden Schicksal und Versöhnung beieinander; ihre zweideutige Ewigkeit wird vom Potpourri zerschlagen, damit sie erkannt werden kann.“ (23)

 

Das letzte Zitat: „Der exzentrische Bau jener Landschaft, darin jeder Punkt dem Mittelpunkt gleich nah liegt, offenbart sich dem Wanderer, der sie durchkreist, ohne fortzuschreiten.“ (25; Hervorhebung U. R.) Es wird im dritten Kapitel noch Gelegenheit geben zu staunen, wie schwierig es bei Adorno zu entscheiden ist, ob zentrale Formulierungen aus der Analyse gesellschaftlicher Prozesse herrühren oder aufdringliche Wirkung unaufhörlicher Echos aus den ersten Versuchen sind, eigenständige Formulierungen zu finden (vgl. Anm. \ref{log}).

 

Ich wollte in diesem Teil systematische Bemerkungen zur Logik des Zerfalls versuchen – aber selbstverständlich ist sie auch eine Formel, ein Bild, etwas Metaphorisches. Sie ist nicht ein Produkt Adornoscher Privatsprache; aber sie ist auch privat. Oder: Ob die „Logik des Zerfalls“, die Adorno in der Negativen Dialektik in Anführungszeichen setzt, im strengen Sinn als Logik zu begreifen wäre, oder ob der Ausdruck Logik nur als Kennzeichnung eines metaphorologischen Verfahrens steht – man muss beides berücksichtigen, das erste zumindest nicht unterschlagen. Der Schubertaufsatz beschreibt die Logik in ästhetischen Prozessen, das Kierkegaardbuch die Logik in einer ontologischen Konzeption; gemeinsam ist ihnen ein erkenntniskritischer Einschlag – kein Geschichts- oder Kulturpessimismus.

 

1.6.2 Philosophie und Musik

 

Die Theoreme des jungen Adorno, die sich um den Begriff des Gebildes und seine Unterbegriffe scharen nach Maßgabe der Logik des Zerfalls, sind keineswegs bloß aus dieser herausgewachsen, aus einem Dunstkreis, den das Genie Wiesengrund nur sittsam genug auszutragen gehabt hätte. Denn die „Studentenjahre“ waren überaus konventionell – was die philosophische Arbeit betrifft. Es war und ist auch heute nichts Ungewöhnliches, einerseits gelehrig die klassische Theorie aufzuarbeiten, daneben noch über Musikaufführungen und Kompositionen Kritiken zu schreiben: doch bei Adorno bildeten diese Arbeitsstränge extreme Gegensätze.

 

Da die musikalische Hälfte dieser Arbeiten, die alle im Anhang zusammengestellt sind, im zweiten Kapitel in extenso vorgestellt wird, geht es hier nur kurz um Adornos Dissertation und seine erste, gescheiterte Habilitationsschrift. [11] Natürlich fehlt der Rahmen, der eine vernünftige Auseinandersetzung ermöglichen würde – noch jeder hat sich um die Qualifizierung dieser Texte gedrückt. Entscheidend ist im folgenden nur die Hervorhebung einer Denkhaltung, die dem Adorno ab 1928 sehr auffällig widerspricht: im unhinterfragten Zentrum steht die Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaften, und im Zentrum steht ebenso auch die Kategorie der Einheit, der Identität.

 

Adornos Lehrer war Hans Cornelius. [12] Die Dissertation über Husserl nahm er an, die Habilitationsschrift wies er zurück, so dass Adorno, nachdem Cornelius emeritierte und der Nachfolger Scheler starb, bei dessen nunmehrigem Nachfolger und Theologen Tillich die Kierkegaardarbeit einreichte, die ja in Spuren dem Theologismus durchaus etwas abgewinnen kann. [13]

 

Husserl will Kant nicht akzeptieren, weil er ihm zu irrationalistisch ist. Sei es, weil die transzendentalen Kategorien so die Erfahrung offenhalten, dass die Dinge nicht mit absoluter Gewissheit erfasst werden; durch das Ding an sich misslingt letztlich jede Erkenntnis; es wird nur der gesetzmäßige Zusammenhang, zu dem die Dinge gehören, ordentlich erkannt. Sei es, dass in der Geschichte der Philosophie diese durch Kritik an Kant so weit dissoziierte, dass von einer gesicherten, gerechtfertigten Vernunft nicht mehr gesprochen werden kann. Adorno lässt sich in der Dissertation Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie deswegen auf Husserl ein, weil er die aktuelle Philosophie formulierte und also die Behauptung auf sich nimmt, in der Phänomenologie zeigen zu können, dass und wie die Vernunft gültige Aussagen macht. Der junge Doktor nimmt eine traditionelle kantische Haltung ein: die Erfahrung ist offen und das Wissen, das nur Gesetzeszusammenhänge erfassen kann, auf die Kategorien wie Erinnerung, Identität der Merkmale, Ähnlichkeit etc. angewiesen – es lässt sich im Bewusstsein keinen Ort der absoluten Gewissheit ausmachen. Das ist die erkenntnistheoretische Position des Lehrers Cornelius, die sich darin zusammenfassen lässt, dass über die Philosophie nicht gesagt werden dürfe, sie sei für alle Fragen zuständig. Folglich müssen in der Phänomenologie Husserls Widersprüche nachweisbar sein; beziehungsweise müssen dessen Probleme, die sich in einer Differenzierung des Vokabulars niederschlagen, das bekanntlich allen Nichteingeweihten etwas monströs erscheint, als Scheinprobleme charakterisiert werden können.

 

Als braver, unkritischer, metaphysischer Kantianer wendet Adorno sich gegen die Vorstellung, dass etwas dem Erkennen vorhergehen und vorgelegen sein könnte – sagen wir's: ein Nichtidentisches – dessen Regelhaftigkeit nicht schon bewusstseinsimmanent nachvollzogen werden könnte. Weder kann von einem eigentlichen, wesentlichen Ding gesprochen werden, dem Realität jenseits der erfassbaren Gesetzmäßigkeiten seiner erfahrbaren Merkmale zuzuschreiben wäre noch sinnigerweise von einem die Vernunft zerstörenden Riss zwischen dem Bewusstsein und der (dinglichen) Welt: „Uns (…) ist das Ding selbst ideal, jedoch nicht unbestimmt wie Husserls Idee des Dings, sondern sehr wohl bestimmt als gesetzmäßiger Zusammenhang der Erscheinungen. Als solcher aber untersteht es der Korrektur durch die Erfahrung.“ (1; 76) Diese „Korrektur“ ist nicht zufällig-chaotisch; aber sie ist auch noch nicht als fallibilistischer Wissenschaftsprozess konzipiert, in dem falsche Gesetzeshypothesen sukzessive eliminiert werden sollen. Der vermittelnde Begriff ist der der Gestaltqualitäten: „Ohne den Begriff der Gestaltqualitäten (…) wird die Bildung eines gesetzmäßigen Erwartungszusammenhangs zum unbegreiflichen Wunder (…).“ [14] (71)

 

Umgekehrt beschäftigt sich Adorno in der ersten Habilitationsschrift Der Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre mit den Irrationalisten, denen ontologisch das Bewusstsein keine Priorität hat, die meist sich zeigen in der Form des Voluntarismus und die das Unbewusste naturalistisch hypostasieren wollen – und er bringt auch Husserl, dem doch Kant irrational erscheint, in deren Nähe… Wiederum nimmt er Stellung für Kant. Aber anders als dieser sagt er, dass das wissenschaftliche Bewusstsein in derselben Weise mit psychischen Ereignissen, denen die Transzendentalphilosophie den Status bloßer Grenzbegriffe zuweist, umgehen kann wie mit physischen. Freuds Psychoanalyse ist folglich dann wissenschaftlich zu nennen, wenn sie das Unbewusste als gesetzmäßigen Zusammenhang begreift, der weder ein Erlebnis noch überhaupt unmittelbar erfahrbar ist: „Wie die Physik uns eine Wissenschaft von der Körperwelt heißt, so dürfen wir sie (sc. die Psychoanalyse) eine Wissenschaft von den unbewussten Tatbeständen des Seelenlebens nennen.“ [15] (280) – Nur einige wenige Begriffe bezeugen noch eine mystische Herkunft: Freuds einstige Erfahrungen mit der Hypnose.

 

Der Misserfolg ist schon im Aufriss einsichtbar. Wie es in der Dissertation heißt, dass „unserer Betrachtung jede historische Absicht völlig fernliegt“ (11), so betont das Vorwort auch hier: „(Unsere) Untersuchung ist erkenntnistheoretisch, nicht historisch intendiert.“ (81) Das wird vom Inhaltsverzeichnis unterstützt, das nahelegt, zwei Drittel der Arbeit sei Kant gewidmet, das letzte Freud. Eine sinnige Diskussionsgrundlage, wie man meinen könnte. Doch schon die zweite Seite der Einleitung stellt die Transzendentalphilosophie auf eigentümliche, zwar grundsätzliche, aber doch eher äußere Weise in Frage:

 

“Der Kampf um das Recht der Transzendentalphilosophie auf die Klärung des Begriffs des Unbewussten muss also auf dem Felde der Philosophien des Unbewussten ausgetragen werden. Nur wenn es gelingt zu zeigen, dass die Unabhängigkeit der Philosophien des Unbewussten von der Transzendentalphilosophie in der Tat nicht besteht; dass verhüllter Weise die Philosophien des Unbewussten sehr wohl mit den transzendentalphilosophischen Voraussetzungen operieren, nur ohne sie deutlich zu machen und aus ihnen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen; oder dass Philosophien des Unbewussten, die wirklich auf die transzendentalphilosophischen Voraussetzungen verzichten, sich damit in Widersprüche verwickeln, die einzig die Transzendentalphilosophie zu schlichten vermag; nur dann ist Transzendentalphilosophie gegenüber den Anfechtungen der Philosophien des Unbewussten gesichert und darf sich des Begriffs des Unbewussten legitimer Weise bemächtigen.“ (86)

 

Genau diese Auseinandersetzung geschieht im Ablauf nur blinzelnd: sie geschieht im Vorübergehen und bloßen Erwähnen von Positionen, die so etwas wie das Unbewusste – die Seele, die Psyche – thematisieren, der Transzendentalphilosophie aber entgegengesetzt sind, indem sie es naturalisieren. Es werden nach den Antiken und Mittelalterlichen erwähnt: Spinoza (90), Leibniz, Herder, Jacobi (91), Hamann, nochmals Herder und Jacobi (92), Schelling, Schopenhauer (95), Fichte, Nietzsche und nochmals Schopenhauer (98), Bergson (99), Simmel, Troeltsch, Weber (102), nochmals Bergson (126), nochmals Schopenhauer und Bergson (132), nochmals Schopenhauer (139), Leibniz-Wolff (157), Wolff (158), nochmals Leibniz-Wolff (160), nochmals Leibniz (177), Geiger (178), Hume (192), Klages, Utitz (196), Haas (197), nochmals Bergson (204), Descartes (205), nochmals Bergson (206), nochmals Schopenhauer, Hartmann (220), nochmals Hume (226), Jung und Adler (240), Mach (250), Brentano (251), Marburger Schule (255), Fechner, nochmals Weber (266), Husserl (270), Rickert (273), südwestdeutscher Idealismus, nochmals Marburger Schule (274), nochmals Leibniz (306), nochmals Hume (307), Spengler, nochmals Nietzsche (320). Aus Texten dieser Autoren wird – nicht ein einziges Mal zitiert; um so aufdringlicher erscheint der Lehrer Cornelius. Kant wird aus der Kritik der reinen Vernunft zitiert, Freud dann erst eigentlich ausgiebig, aus den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Als Ausnahme wird beim Begriff der Intuition Seite 125 auf das Buch von Josef König, Der Begriff der Intuition, verwiesen.

 

Dieser seltsamen äußerlichen Anlage entspricht ein merkwürdig antiadornoscher Gehalt und ein formloser, offensichtlich unglücklicher Verlauf der Arbeit, der eine ursprüngliche Konzeption wohl unerwarteterweise über den Haufen rannte. Der Gehalt wirkt deswegen abseitig, weil Kant komplett ohne Hegel gelesen wird; zudem werden ihm Positionen kontrastiert, die nicht im geringsten vermittelt werden. Um so abrupter wird das ganze thematische Terrain im letzten Drittel umgestürzt: zielt vorher alles auf Wissenschaftlichkeit und Einheit der Erfahrung, so wirft sich Adorno auf den letzten sechs Seiten der Schlussbetrachtung, die durch eine Leerzeile von den vorangegangenen zusätzlich abgehoben erscheinen, den Praxisphilosophemen geradezu an die Brust, mit dem verräterisch hektischen Satz eingeleitet: „Es bleibt uns übrig, nach alldem einen raschen Blick auf den Zweck unserer Arbeit zu werfen.“ [16] (316; Hervorhebung vom Autor)

 

Alle Antitranszendentalisten – Charakterologie, Persönlichkeitspsychologie, „gewisse phänomenologische Bestrebungen“, Gestalttheorie – werden als organizistisch abqualifiziert, und die von ihnen „heftig befehdete Psychoanalyse“ noch einmal verteidigt. (316f) Es wird ihnen vorgeworfen, „die Mängel der Realität (…) (zu) verklären; mit anderen Worten, dass sie als Ideologie ausgenutzt werden.“ (318) Die Psychoanalyse, der mit viel Aufwand zuvor Wissenschaftlichkeit attestiert wird, steht allein im Dienste der „Entzauberung des Unbewussten“ (Hervorhebung vom Autor):

 

„Indem wir das Unbewusste als eine Form der Begriffsbildung verstehen, die in Bewusstem stets und ausschließlich ihren Grund hat und in Bewusstem sich muss ausweisen lassen, wird jede Rede von unbewussten Mächten der Seele, die der Macht des Bewusstseins enthoben wären oder sie begründeten, hinfällig. Indem wir das Unbewusste als eine transzendentale allgemeine und notwendige Gesetzmäßigkeit begreifen, verliert es seinen wertakzentuierten, normativen Charakter, stellt sich auch nicht mehr als ein Vorrecht höher gearteter Menschen dar, sondern allein als eine Bedingung des psychischen Zusammenhanges, die für alle gilt, gewiss keinem Erholung, aber auch keinem mythische Überlegenheit bietet. Ins Unbewusste ausweichen lässt sich nicht; es ist nicht qualitativ von Bewusstsein verschieden, sondern eine durchgehende Form des Zusammenhanges des Bewussten.“ (320)

 

Unnötigerweise steigert sich Adorno. Die Psychoanalyse ist nun „eine scharfe Waffe (…) gegen jegliche Triebmetaphysik und Vergottung bloßen dumpfen, organischen Trieblebens“ (ebd.). Schließlich bricht gar das ganze Konzept zusammen, der Autor wirkt in seiner unvermittelten und unverhofften Radikalität unglaubwürdig: „Wenn die Psychoanalyse gleichwohl in manchen Punkten an den dogmatischen Voraussetzungen des Unbewussten haften bleibt, so hat das seinen Grund nicht allein in der Unzulänglichkeit der Theorie, auf die wir mehrfach verwiesen, sondern in einem Gesellschaftlichen: dass nämlich die Aufdeckung vieler entscheidender unbewusster Gehalte die Änderung des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes zur Voraussetzung hat und dass jedenfalls mit der Erkenntnis der unbewussten Tatbestände allein nichts geleistet ist, solange der Bestand der gesellschaftlichen Realität unangetastet bleibt.“ (321) An dieser Stelle ist kein Platz mehr für Kant und transzendentalphilosophische Fragestellungen (deshalb die Unruhe), keiner mehr für Freud (das Individuum, das empirisch sich stellenweise herumtrieb (218), wurde hinausgeworfen), keiner für die Geschichte der Theorie (die alternativen Konzeptionen sind mit einem Zentralbegriff der Gesellschaft zwar kurzgeschlossen worden – dem Imperialismus (319) – aber nicht mit Kant und/oder Freud vermittelt) – Platz gibt es nur für pure, abstrakte Praxis, und dies in einem Text, der sich gegen den „Stand wissenschaftlicher Anarchie“ (164) gerne gerichtet gesehen haben möchte.

 

Adorno, als gelehriger Schüler-Philosoph Positivist, war offenbar mit der Idee eines Zusammenhanges der „Grenze jeglicher Aufklärung“ (322) mit gesellschaftlicher Praxis im Sommer 1927 fürs erste überfordert – statt einer Neuformulierung der Arbeit schreibt er den Kierkegaard, in dem nichts mehr von analytischer Wissenschaftstheorie zu spüren ist. Von analytischer Begrifflichkeit ist ebenso wenig in den parallel geleisteten Musiktexten aufzugreifen: sie sind ein Spielfeld metaphorischer Verschiebungen. Wo auf der einen Seite Freud den Stillen Ozean philosophischer Wissenschaftsruhe zu Sturmfluten aufwirft, da treiben auf der anderen die Blumen der Metaphorizität einem Ablauf zu, der scheinbar Musik, Soziologie, Gesellschaft und Erkenntnis in einem rationalen, begrifflich-nüchternen Rahmen wissenschaftlich beschreibbar zurückzulassen verspricht.

 

1.6.3 August 1928: erste Vermittlung

 

Zur folgenden Datierung des Paradigmawechsels beim jungen Adorno – vom expressionistisch-metaphorischen Vokabular zu einem soziologisch-begrifflichen – leistete dieser sich im Aufsatz Drei Dirigenten: Furtwängler, Scherchen, Webern 1926 ein Vorspiel. In vorübergehender Weise schreibt der Autor in einer Begrifflichkeit, die erst wieder im August 1928 die Musiktexte strukturiert, von diesem Zeitpunkt an allerdings bruchlos. Bezüglich des Vokabulars ist dieser Text ein Unikat. Zu Furtwängler findet sich ein Satz, der an den Schubertaufsatz von 1928 erinnert: „Dann wäre es wohl die Zeit, dass ein Interpret (…), der selber so ganz existente Person ist, dass er für sein Teil nie des Rechtes sich begeben dürfte, beredte Innerlichkeit abzubilden – dass ein Interpret (…) die Macht seiner Innerlichkeit daran wendete, die Werke vorm Zerfall zu retten, der der Zerfall ihrer Innerlichkeit ist (…).“ (19; 453) Mindestens so herausstechend ist ein Satz zu Scherchen: „Der Aktualität Scherchens aber ist es um die Wirklichkeit der Werke wahrhaft zu tun. Deren Organon ist geschichtliche Erkenntnis eben: nicht die zuschauerhafte des Historikers, sondern die leidenschaftlich gegenwärtig im Material geleistete, die den Stand der Wahrheit in Werken ermisst und zu reproduzieren trachtet.“ (19; 455) Schließlich heißt es eine Seite weiter: „So führt Scherchens Direktionsweise ins Zentrum der geschichtsphilosophischen Problematik der Werke (…).“

 

Von den kleinen Artikeln sollen nur zwei zitiert werden. Im August 1928 schreibt Adorno:

 

„Der Cardillac ist nicht nach dem Komponierniveau zu werten, das jenseits der Frage steht und kaum je bei Hindemith so gesichert sein mochte wie in der repräsentativ intendierten Oper: man hat zu fragen, wie sie ihrem Wahrheitsgehalt nach sich darstelle: ob sie Hindemiths Rang, wie ihn die deutsche Öffentlichkeit unermüdlich deklariert, tatsächlich bestätige und ob sie im Umfang seines Gesamtwerkes die zentrale Stelle einnehme, die sie beansprucht. Vor so radikaler Fragestellung will sich der Cardillac, rund heraus gesagt, nicht behaupten.“ (19; 128; Hervorhebung vom Autor)

 

Und im Dezember 1928:

 

 „Wie der Surrealismus die abgelebten Dinge aus dem Traum zitiert, so wollen Kreneks kleine Opern vergangene Oper aus dem Traum heimbringen.“ (19; 136)

„… woraus dann die Oper ihre politischen Konsequenzen zieht im Sinne einer Kritik an der Revolution aus Sommerfrischenperspektive. Solche handfeste Bürgerlichkeit ist wenig märchenhaft und träumen hätte man es sich auch nicht lassen; wenigstens bei Krenek, der nicht bloß seine Musik stabilisiert hat. (…) Wie fern mir zunächst eine Musik liegt, die nicht aus dem aktuellen Stande des musikalischen Materials die Konsequenzen zieht, sondern durch die Verwandlung des alten geschrumpften Materials zu wirken sucht: bei Weill ist solche Wirkung so schlagend und original gewonnen, dass vor der Tatsache der Einwand verstummt. Gewiss, auch bei Weill eine Wiederkehr; aber keine um der Stabilisierung willen, sondern eine, die die dämonischen Züge der abgestorbenen Klänge aufdeckt und nutzt.“ (19; 137f)

 

Wichtigstes Zeugnis für die Veränderung von Adornos Denkhaltung ist der Aufsatz Die stabilisierte Musik. [17]

 

“Zwar aus der Nähe will es scheinen, als sei die Veränderung des musikalischen Bewusstseins gelungen. (…) (In) der Nähe ihrer wechselfältigen Unvergleichlichkeit sind sie (sc. die einzelnen Werke) geschützt vor der Konfrontierung miteinander und der Entzifferung der geheimen Lineatur, die sie gemeinsam, sehr gegen ihren Willen, bilden und aus der am Ende als wahres Zeichen der Zeit abgelesen werden könnte, was die einzelnen Werke niemals zugestehen möchten. (…) (Allein) die Distanz (ergibt), sei es immer auf Kosten des Konkreten, das eigentliche Bild der musikalischen Zeitlage. (…) (Konstruktion) allein vermag (es), heute die gestaltlose Masse dessen zu durchdringen was ist. (…) Die Entwicklung, die die Auflösung der Komponiernormen mit sich brachte, ist keineswegs gesellschaftlich revolutionär gewesen. Sie vollzog sich durchaus im Rahmen eben der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, deren Musikübung sie schließlich zersetzte. (…) Einzig die letzte dialektische Konsequenz aus jenem Prozess, wie Schönberg und seine Nächsten ihn zogen: nämlich alle Brücken der Verständlichkeit hinter der monologischen Musik abzubrechen, damit sie vom bürgerlichen Geltungsraum zu emanzipieren, indem das Prinzip des bürgerlichen Individualismus bis zu seinem Umschlag getrieben wird, und damit Raum zu schaffen für die Konstruktion aus Phantasie in Freiheit – einzig diese letzte, in ihrer Tiefe und Gewalt kaum nur geahnte Konsequenz trägt das Bild einer zukünftigen Gesellschaft in sich…

Das liegt jetzt erst völlig deutlich zutage. (…) (Die) Wendung zur Neuen Musik (…) (kam) aus Sphären, die politisch in der Tat als erschüttert gelten mussten (…); aus jener Sphäre der Unsicherheit also, die in Dichtung und Malerei den expressionistischen Stil auskristallisierte. (…) Die Relativität in der Wahl der musikalischen Bezugsschemata, nicht ohne Zusammenhang mit der Relativitätstheorie in der Physik, entspricht genau der Freiheit in der Wahl des wirtschaftlichen Standortes, die der Imperialismus für sich in Anspruch nimmt; die neuen Tonsysteme (…) haben als Kolonialland der Tonalität weit eher zu gelten, als dass es gelungen wäre, vom tonalen Mutterland radikal sie zu scheiden…

Leicht lässt sich der Umkreis der stabilisierten Musik – der, wir wiederholen es, Schönberg, auch mit der Zwölftontechnik; weiter vor allem Alban Berg und Anton Webern nicht zugezählt werden dürfen – überschauen. Sie scheidet sich in zwei große Gruppen, die hier, grob schematisch [18] , die klassizistische und die folkloristische heißen mögen. Soziologisch ist der Klassizismus als die Form der Stabilisierung in den fortgeschritteneren, rational aufgehellteren Staaten zu verstehen, während die rückständigeren, wesentlich agrarischen Länder – übrigens, kurios genug, auch Sowjetrussland – und weiter die Staaten der faschistischen Reaktion dem Folklorismus zuzählen.“ (18; 721f; Hervorhebungen vom Autor)

 

Schließlich gehört auch der Text Situation des Liedes zentral in den Umkreis des jungen Adorno, der entschieden hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Seine Elemente entstammen dem Kierkegaard (so der oben nicht hervorgehobene Begriff des Möbels) und dem Schubert, der Logik des Zerfalls, der historisch-materialistischen Geschichtsphilosophie rsp. „geschichtsphilosophischen Situierung“ und einer ziemlich spontanen soziologischen Charakterisierung [19] :

 

“Wer ist es, von dem uns heute Lieder kommen? (…) (Keine) Gemeinschaft ist dem Liede vorgegeben. Vielleicht war niemals die Stimme Mittlerin eines seienden kollektiven Sinnes, wie uns die Romantik einreden mochte, vielleicht hat sie von je das dauernd uns Verstellte herbeiziehen wollen, wie heute noch in der Landschaft der singende Ruf den herbeiziehen will, der nicht da ist… (…) Dafür hat Romantik das Lied gleich einem Möbel in Besitz genommen… (…) Dies alles lässt sich heute willig durchschauen… Allein so ist wenig geändert. Zwar mit dem psychologischen Lied ist es zu Ende; derart eilig haben sie es mit der Liquidation, dass man den Verdacht nicht los wird, die Umkehr solle hier allein bequeme und reaktionäre Musiker der Mühe entheben, aus der Endsituation des psychologischen Liedes im Material Konsequenzen zu ziehen… (…)

So scheinen dem Liede alle Wege gleichermaßen versperrt.

Wer da retten will, muss in die Hölle hinabsteigen; daran hat sich seit Orpheus nichts geändert. Schönberg hat sie betreten. (…) Die fortschreitende Kommunikation dieser primär musikalisch determinierten Gebilde mit ihrem Vorwurf kann nicht anders glücken, als indem das Gedicht in seine kleinsten Partikeln zerschlagen wird. (…) Wohl führt der Bezug auf die poetische Partikel zunächst scheinbar ebenso zur Zersetzung der musikalischen Struktur wie der poetischen. Jedoch nur scheinbar, denn aus den kleinsten Zellen der psychologischen Kommunikation von Wort und Musik, in denen jeweils beide zur Indifferenz gegeneinander gelangen, komponiert sich eine zweite, neue musikalische Totalität, deren Gesetzlichkeit nicht bloß von den poetischen Partikeln, sondern ebenso wohl konkret-musikalisch vorgezeichnet ist: die Auflockerung der musikalischen Oberfläche, ihr Zerfall und ihre Korrektur durch das unvergleichlich Einzelne ist es ja gerade auch, was durch den aktuellen Stand der innerkompositorischen Dialektik gefordert wird. (…) Dann ist einem Werk kollektive Dignität zuzugestehen, wenn seine Gehalte dem fortgeschrittensten Stand der Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessen sind.“ (18; 345ff)

 

Man ist versucht, in diesen zwei Texten den kritischen Adorno der zu deutenden Gebilde von einem, um es deutlich zu sagen: dogmatischen überdeckt zu sehen, der es sich in der soziologischen Deutung bequem eingerichtet hat. In der Tat gibt es diese Tendenz; sie ist Gegenstand der Untersuchungen im dritten Kapitel. Dazwischen geht es umgekehrt darum, die genannte Perspektive – antihermeneutische Deutung – in ihren Beweggründen und in ihrer Einzigartigkeit erst noch ins allgemein klärende Licht zu rücken.

 

1.6.4 Des jungen Wiesengrunds Erfahrungen der Logik der negativen Dialektik in den musikalischen Gebilden nach der Jahrhundertwende

 

In diesem Teil wird zunächst kurz gesagt, was die besondere Wahrnehmungsbereitschaft nicht nur des Menschen Theodor Wiesengrund, sondern diejenige eines Harmonielehreschülers im allgemeinen verglichen mit derjenigen des Alltagsbewusstseins vis-à-vis der Musik ausmacht; dann folgen in einem bescheidenen Rahmen Themenanalysen von Musikstücken, die als struktural zu charakterisieren wären, ein Kinderlied und der Anfang eines Mozartstückes. Daraufhin erst wird das Spezifische zur Darstellung kommen, das was der junge Adorno in der Musik zu erfahren hatte und welcher Erfahrung er eben einzigartigerweise bzw. im musiksoziologischen Sinne „beispielhaft“ nicht durch vorschnelle Rationalisierung, Bagatellisierung oder – wie üblich – durch Verleugnung auszuweichen trachtete, sondern mit unerschöpflicher Geduld aktiven Umgang pflegte. Zuerst wird dies im Unstern! Franz Liszts versucht, geschrieben in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, publiziert aber erst 1927 [20] , daran anschließend im seriellen Werk Structures 1 a von Pierre Boulez, entstanden im Verlauf bloß einer einzigen Nacht, 1951. Der Vorteil der Wahl von Liszt und Boulez liegt darin, dass man zunächst mit einem Stück Musik konfrontiert wird, das zeitlich einigermaßen weit vor derjenigen komponiert wurde, in der das eigentlich Neue sich entwickelt, das desto mehr etwas Wesentliches von dem Neuen aber – mit gewissen Einschränkungen, die hier nicht in gebührenden Differenzierungen diskutiert werden – schon in sich enthält, schließlich mit einem Stück, das quasi den Endpunkt dieser Entwicklung festlegt und ihn dadurch explizit festschreibt, dass es bereits im Titel verspricht, dass die Strukturen des Stückes (bewusst) konstruiert sein sollen und dass das Stück nicht durch (unbewusst) vorgegebene Strukturen – struktural – dieselben durch affirmative Wiederholung verklärt. Auf diesem Weg rsp. Umweg wird vermieden, irgendwie spekulativ behaupten zu müssen, welche Werke denn der junge Adorno tatsächlich analysiert oder sonstwie in jenen Jahren genauer gekannt hatte. [21] Es ergibt sich so zwanglos die Umklammerung einer musikalischen Episteme [22] , die für die negative Dialektik prägend ist, die aber in ihrer historischen Genese, d. h. im historisch-empirischen Wissen über Musik, nicht beschrieben zu werden braucht; solches geschieht ausladend schon in den frühesten Schriften Adornos, die Thema von Kapitel 2 sind. Problematisch an der vorgenommenen Wahl ist nur, dass Adorno sie niemals so kritiklos besprochen hätte, wie sie hier in didaktischer Absicht und aller Zweifelhaftigkeit entkleidet dargestellt werden müssen, weil ausschließlich das sichtbar gemacht werden soll, was auch rekonstruierbare Wirkung zeugte. – Adornos „Erfahrung“ der neuen Musik, des Neuen in der Musik nach der Jahrhundertwende, lässt sich nicht durch Fakten aufzeigen: Harmonielehreübungen sind keine erhalten geblieben; um so mehr empfiehlt sich die Redeweise von einer latenten Erfahrung. Solche Latenz kann durch die modellhafte Präsentation von strukturellen Beziehungen in Werken, die der empirisch-wirklichen Erfahrung mit Gewissheit nicht zugänglich waren, methodisch berücksichtigt werden: das Lisztwerk, weil es zwar schon geschrieben, aber noch nicht publiziert war [23] , das Boulezwerk, weil es erst später geschaffen wurde. Unter modellhafter Präsentation ist ansatzweise zu verstehen, dass nur das gezeigt wird, was sich in der rein graphisch-schriftlichen Struktur der Musik herauslesen lässt, dies aber gerade auch dann noch, wenn ein angeblich vorauszusetzender musikalischer Sachverstand zur Beanspruchung nicht genötigt wird. [24]

 

Adorno war von 1919 bis 1924 (mit Beginn also 17jährig) am Hoch'schen Konservatorium bei Bernhard Sekles Privatschüler. [25] Hier hat er die Musik in einer bestimmten Form erfahren, die zu derjenigen sich supplementär verhält, die im Elternhaus mit großer Wahrscheinlichkeit dominierte. [26] – Bezüglich des Harmonielehre- bzw. Kompositionsunterrichts lässt sich zwar nicht behaupten, der Schüler sei besser als der Lehrer gewesen, aber man kann doch ohne weiteres die Meinung verteidigen, er sei in seinem Habitus spürbar, also mit Aufsässigkeit, avancierter gewesen. [27] Adorno war im musikästhetischen Empfinden Sekles voraus – und er schreibt ja dann Berg 1925, er hätte Probleme in einzelnen technischen Dingen, die man klar benennen könne und die Sekles eben nicht behandeln konnte. [28] Deshalb bringt es nichts oder zumindest nicht das wesentliche, sich auf Sekles zu stützen, insbesondere auf seine Werke, wenn gezeigt werden soll, auf was sich Adorno in jener Zeit permanent zu beziehen hatte. [29] Eine vielleicht grob anmutende Skizzierung, die den eigentlichen Lehrer ausklammert, verschafft eher die Möglichkeit, Missverständnissen vorzubeugen, als eine vertiefte Analyse eines empirisch tatsächlich passierten Ausschnittes, der wesentlich darauf abzielte, das was zur Zeit zur Verwirklichung drängte, als Scheinproblem in seinen Auswirkungen vorschnell abzumildern. In anderen Werken als denen des Lehrers, der schon feste Lösungen in seinen Werken vorzuschlagen wagte, ist die musikalische Substanz vielleicht fragwürdiger und vielleicht gar scheinbar unverbindlicher – um so weniger vertuschen jene das, was das zeitgenössische kompositorische Denken allgemein gefangen hielt. Dieses Neue, die Auflösung der thematischen Struktur insbesondere im Hinblick auf ihre mehr oder weniger organisch verwurzelte Periodizität, entwickelte sich zwar äußerst verschlungen, so sehr vertrackt und allen logischen Entwicklungslinien entfliehend, dass man heute in Zweifel ziehen muss, ob man überhaupt davon sprechen solle, ob das „Thema“ als strukturbildendes Moment jemals ganz aus der Musik entlassen wurde; dem in eine Institution eingebundenen Musiklernenden erscheint aber schon geringfügige Abweichung von der konventionellen Regelhaftigkeit als erklärungsbedürftig, und in diesem Abschnitt wird gezeigt, dass die Veränderungen keineswegs unauffällig oder minim waren (Zusätzliches, d. h. der Vorgang des Zerfalls der Tonalität, wird allerdings nicht gezeigt). [30] Was dem und der bloß mehr oder weniger bewusst Musikhörenden vielleicht als „interessante“, aber nichtsdestoweniger dem Vergessen überantwortbare Veränderung erscheint, ist dem Musik-analysierenden äußerst ernsthaftes Ereignis, das nach Erklärung verlangt. In diesem Zusammenhang darf erwogen werden, ob eine Analyse der Adornokompositionen vielleicht Deutlicheres zutagefördern würde.

 

Eine Kompositionsanalyse der Werke des jungen Adorno vermöchte kaum zu leisten, was hier mit methodischer Notwendigkeit intendiert wird: das Typische neuer Musik modellhaft zu demonstrieren – weil Adornos frühen Kompositionen dem Dunklen des Triebkomponierens, das zu „schwungvollem Musizieren“ geradezu zwingt, mehr nachgeben als sie an Rationalität, die den Stand des Materials analysierbar in sich schließt, enthalten könnten. Der 17jährige komponierte zweifelsohne in musikalisch mangelhafter Potenz – aus Adorno wurde kein Komponist – und was in diesem Kapitel zusammengetragen werden soll, ist umgekehrt genau das und nichts anderes, was des Komponisten-Philosophen Denkanstrengung in einem entscheidenden Ausmaß in Gang gehalten und davor auch erst in Schwung gebracht hatte. In den selbstgemachten Kompositionen gibt es Konzessionen an die dubiose Idee des Werkevollendens, die die Spuren des Fortschrittlichen, die keinen breiten Bahnen folgen, vertuschen, und die hier zur Debatte stehen und aufgedeckt werden sollen. [31] Das Modellhafte und Rationale im Erfahrenen kann nur entweder in „authentischen“, kompromisslosen und gelungenen Werken – seien es eigene, solche des Lehrers oder sonstwie rezipierte – oder in (rationalisierten) Analyseversuchen herausgelesen werden. Das methodische Dilemma besteht folglich darin, dass Adorno etwas erfahren haben kann nur an großen Werken, dass Zeugnisse davon aber nicht in Analysen – ob solche aufbewahrt wurden oder nicht [32] – zu suchen sind, da sein musikalisches Denken geradezu rücksichtslos aufs Komponieren selbst ausgerichtet war [33] , wo hinwiederum, wohl unter nicht ungerechtfertigter aber eben nicht umstandslos üblicher Banalisierung reiner Harmonielehreübungen, ein Mangel an Fertigkeit nicht wegzuleugnen ist. Die im „Getreuen Korrepetitor“ (AGS 15; 157ff) Anfang der sechziger Jahre gesammelten Musikanalysen Adornos können aus methodischen Gründen hier nicht beigezogen werden, da sie die Einheit des Themas sprengen würden, weil in ihnen schon viel zuviel ausgereifte Vermittlungsarbeit geleistet ist. Es lässt sich von diesen Analysen her nicht darstellen, was die unvermittelte musikalische Erfahrung des jungen Adorno war, der gegenüber er sich ausgesetzt sah und die auf ihn wirkte; die späten Analysen sind schon Resultat der Verarbeitung der Erfahrung, nach der, und das ist das Thema, erst gesucht wird. – Dies mag vielleicht schon andeuten, weshalb in den Thesen von einem Verdrängungsprozess die Rede ist: die Erfahrung am Neuen in der Musik wurde weder begrifflich zu Bewusstsein gebracht noch konnte sie, und das hätte der Sache mehr entsprochen, im eigenen Komponieren kritisch und zugleich zufriedenstellend bewältigt werden. [34]

 

Ein Kinderlied

 

Bevor ein Ausschnitt aus der Geniekunst zur Sprache gebracht wird – Mozart – soll an einem nicht mehr weiter vereinfachbaren Musikstück gezeigt werden, worum es überhaupt geht und auf was die nachstehenden spartanischen Erläuterungen abzielen. Das Kinderlied Yongi Schwän und Äntli sieht geschrieben folgendermaßen aus [35] :

„Yongi Schwän ond Äntli“

 

Will man über das Musikalische dieses „Musikstückes“ sprechen, lässt sich neben wenigem anderen sagen, dass das Ganze eine Form ist, die keine Ergänzung verlangt und also als abgeschlossen zu betrachten ist und dass dieses Gebilde als Ganzheit in zwei Hälften aufteilbar ist, in Vorder- und Nachsatz, die eine weitere Halbierung in zwei Teile zusätzlich erzwingen. Das Ganze hat vier Teile, die durch nichts anderes charakterisiert sind als durch das „gegensätzliche“ Hinauf- oder Hinuntersteigen der Tonlinie: der Rhythmus wird nicht verändert, ebenso wenig geschieht bezüglich der Harmonie etwas, das sie historisch oder kulturell spezifizieren würde. Das, was geschieht, ist das, was erwartet wird, wenn nur schon ein erster Teil erklungen ist, sei es ein Takt oder zwei.

 

Auf eine Formel gebracht, passiert hier nichts anderes als eine permanente Periodisierung: auf eine Periode des Steigens folgt eine des Fallens, auf eine des Hüpfens eine des Ruhens, auf eine der Anspannung eine der Entspannung, auf Weggehen folgt Zurückkommen. Kurz: auf eine Periode des Entdeckens folgt eine der Wiedererkennung. [36]

 

Das Verstehen dieser Struktur, das auch geraten sollte, wenn noch nie bewusst und „angemessen“ über Musik gesprochen wurde, ist die einzige Voraussetzung, um der nun darzustellenden geschichtlichen Veränderung in der Form der musikalisch-thematischen Strukturbildung folgen zu können.

 

Mozart

 

Das Mozart Streichquartett KV 458, das „Jagdquartett“, wurde ausgewählt, weil es einerseits auch in der Rezeptionsgeschichte ungefragt zur „Klassik“ gehört, wie sie die Kulturindustrie favorisiert und wie sie das Alltagsbewusstsein haben will, andererseits doch auch Besonderes enthält, gegeben durch die Anleihen bei den Jagdsignalen, das es von alleine zu verhindern vermag, dass in einer Demonstration von Modellhaftem in absurden Mechanizismus verfallen wird, der suggerierte, Subjektivität, die den Formen Leben einhaucht, indem sie ihre Regelbildungen unterläuft oder zumindest nicht ungebrochen akzeptiert – dieselben also geringfügig abändert – sei wesentlich in der Betrachtung von Musik auszuklammern. [37]

 

Zwei Vorbemerkungen zur Analyse des thematischen Aufbaus des Mozartstückes sollen dem sachlich unangebrachten Schrecken angesichts gehäufter Musiknotate vorbeugen:

 

a)   Zum Metrum:

 

Wenn man sich klarmacht, dass der Taktstrich die Maßeinheit für die Strukturierung des musikalischen Gebildes in der Zeit abgibt, so ist der 6/8-Takt nichts anderes als die ewige Wiederkehr des immer gleichen Atmungsablaufes von sechs Einheiten, deren erste und vierte je nach Charakter eines Stückes mehr oder weniger stark akzentuiert sind.

 

Der 6/8 Takt:

 

 

Wie der pulsabhängige Atem zwar normalerweise gleichmäßig geht, aber nie zu etwas Mechanisch-Starrem wird, so ist das metrische Gefüge durch die Taktangabe zwar als etwas Bestimmtes identifizier-, visualisier- und analysierbar, im Spiel, d. h. in der Verwirklichung dieser Struktur ist diese letzte aber in sehr großem Maße dehnbar, so dass beim Hören dieser Struktur, die dem Stück zu Grunde liegt und ihm als Basis dient, nicht viel von deren Konstruktivität das Bewusstsein belastet – sie kann praktisch gänzlich und permanent verfehlt werden, ohne dass das Hören subjektiv einen Schaden erlitte.

 

Quartett in B, KV 458

W. A. Mozart

 

 

 

 

 

 

 

b) Zur Tonalität:

 

Betrachtet man losgelöst vom Ganzen nur die tiefste Stimme des Streichquartetts,

 

 so fällt auf, dass die ersten 17 Takte nur die Töne B, D und F enthalten, mit Ausnahme der Takte 3 und 7, wo der Terzschritt Es-C den Ton F, d. i. die strukturbildende Dominante der von Mozart gewählten Tonart B-Dur, als Dominante fasslich macht.

 

Bezüglich des Verhältnisses von „Melodie“ und „Begleitung“ bildet das Stück keine Besonderheit, weswegen es genügt, zumindest anfänglich, zur Bestimmung des Themas sich auf die erste Stimme zu beschränken.

 

Die ersten vier Takte

Violine I, Takt 1-4

zeigen ein Gebilde, dessen zweiter und vierter Teil mit Ausnahme der allerletzten Note (die wegen des auftaktigen Rhythmus zum nächsten Takt gehört) identisch sind, dessen erster und dritter Teil immerhin im Fallen der Melodielinien gleich sind.

 

Die nächsten vier Takte sind nichts anderes als die Wiederholung des Gebildes. Was unterschiedlich ist, ist dies bloß als Verzierung, als oben erwähnte Störung von allfällig Mechanischem.

Violine I, Takt 1

 

wird zu

 

Violine I, Takt 5

 

Da hier keine Formanalyse gemacht wird, die begrifflich von Einzelmomenten nur nach dem methodischen Vorgriff auf das Ganze des Stücks sprechen dürfte, braucht nicht entschieden zu werden, ob die Anschlusspassage ein zweites Thema oder ein Nebenthema darstellt, oder ob es sich um einen Übergang zu einem zweiten Thema handelt – es sei aber schon hier verraten, dass diese Unentschiedenheit in der Analyse nur scheinhaft ist, motiviert durch den Treibjagdcharakter [38] dieses Quartettsatzes, und dass dies zum Besonderen dieses Mozartstückes gehört, also zum kunstvollen Stören der Regeln der Kunst. Jedenfalls lässt sich wieder dasselbe feststellen: 2 Takte ergeben eine Form, welcher etwas entgegengesetzt wird

Violine II & Viola,

Takt 9 & 10

 

das selbst in sich widersprüchlich ist: auf den zwei liegenden Akkorden der übrigen Stimmen spielt die Violine I einen schnellen Lauf

 

Violine I, Takt 11 & 12

 

Dieses viertaktige Gebilde wird in seinem ersten Teil (Takte 9 & 10 und Takte 13 & 14) identisch wiederholt, im zweiten ist der Lauf der Violine in Umkehrung. Takte 11 & 12 werden also zum Folgenden umgebildet:

Violine I, Takt 15 & 16

 

Es mag kurios erscheinen und an die Grenze von Unseriosität bereits haltlos anstoßen: aber man hat tatsächlich schon das Entscheidende an der Musik erfasst – und viel weiteres hat noch nie ein Harmonielehreschüler zu lernen bekommen – wenn man versteht, dass die Gegenübersetzung von steigender und fallender Melodielinie eine Periodizität nach sich zieht und musikalische Form struktural konstituiert; die Regeln der Harmoniebildung sind damit zwar noch nicht berücksichtigt, gerade sie sind aber mechanischer, also bezüglich Kunstsinnigkeit voraussetzungsloser erlernbar als die angesprochenen Formen. Es lässt sich also aus dem Anfang dieses Mozartquartetts herauslesen, dass jeder Ton in einem Zusammenhang steht, der selbst sich jeweils auf eine ziemlich grobe Identität bezieht, sei es a) den tonal strukturierten Tonhöhenraum (sichtbar im Bass des Violoncellos), b) das Figurenhafte und leicht Identifizierbare der Motive (ablesbar im Zusammenspiel der Rhythmen und Intervalle) oder c) das Widersprüchliche des Themas (aufsteigende und absteigende Linienverläufe).

Doch der Anfang dieses Stücks hat sein sinniges Ende noch nicht gefunden. Bei den nächsten 8 Takten handelt es sich um ein durch den Sprachgestus, der dem Jagdsignal offenbar innewohnt, erfordertes Abfedern oder Auffangen des Gesamtimpulses. Diese Passage ist für sich genommen eindeutig kein Thema, so dass man verführt sein könnte, die ganze besprochene Seite als das komplette Thema aufzufassen. Das kann nur entschieden werden, indem weiteres zur Präsentation gebracht wird, was hier aber nicht geschieht. [39] Denn man kann aus dem Bisherigen bereits jetzt mit Konsequenz folgern, dass die Logik des Formverlaufs zwar zwingend ist, dass dieser Zwang aber eine gewisse Unbestimmtheit in sich aufzunehmen durchaus imstande ist. Das Hinüberwechseln von einer Dimension in die andere – von der kleinen Form des Themas zur großen Form des Satzes – ist genuiner Bestandteil gelungener Kunstwerke. Die thematische Struktur korrespondiert mit der Form des Ganzen; diese aber ist nicht vollständig von jener abhängig: das Verhältnis ist supplementär. Die Struktur der Ergänzung, die sozusagen die Grimmigkeit im Festen der Formen ständig verschiebt und von sich schiebt, lässt sich phänomenologisch leicht dadurch zu Verstande bringen, dass man sich vergegenwärtigt, dass das Ohr sich nicht verletzt, wenn es zwar den Details des Themas und der Motive folgt in sei es stärkerer oder schwächerer Aufmerksamkeit, in demselben Akt des Verfolgens, um einen einheitlichen Sinn zu ergreifen, den größeren, objektiv in der Komposition festgelegten Zusammenhang aber gleichwohl nicht – und dies nichtsdestotrotz ohne eigentliche Frustration – adäquat zu fassen bekommt. – Es darf angenommen werden, dass der Sache nach das Thema analysiert ist, dass aber beim tatsächlichen Hören des Fortlaufes des Stückes trotzdem noch weiteres hinzukommt – wenn auch nicht substantiell Neues, da die Elemente des Themas, mit der Ausnahme dessen, was nicht ohne Auffälligkeit in den Takten 38 - 41 geschehen wird (im gegebenen Abschnitt nicht notiert), komplett festgehalten sind. Es ist das empirische Hörgefühl, das dann zu dem konsequenten Schluss zwingt, dass hier das Ganze noch nicht in seiner Abgeschlossenheit dasteht, und – was wichtiger ist – dass der ganze Formaufbau ein stimmiges Ziel haben wird, das jede Analyse obsolet erscheinen lassen wird. [40]

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[1] An dieser Stelle wird gleichwertig aus folgenden Texten zitiert: Thesen über die Sprache des Philosophen, Die Aktualität der Philosophie und Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Diese Texte sind in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre entstanden bzw. was den letzteren betrifft: in eine Schlussfassung gebracht worden, nach der Logik des Zerfalls. So fruchtbar es ist, im Zeitraum Anfang der zwanziger Jahre bis 1928 von einer Entwicklung zu sprechen, so unmöglich ist eine diesbezüglich spezifische Differenzierung ab diesem Datum bis zur Entziehung der Venia Legendi, September 1933.

[2] Habermas (1988b), 470ff.

[3] Dieses Adornostatement suggeriert fälschlicherweise, es sei Verklärung nicht nur beim Leibniz der Theodizee, sondern auch in anderen, eher erkenntniskritisch geprägten Philosophien bewusste Intention der Autoren. Die Metaphysik des Sinnes, nicht-theologisch unvorstellbar, ist nicht notwendigerweise auch eine Freisprechung Gottes vom Bösen.

[4] Buck-Morss (1979), 268f, Anmerkung 33. Kurioserweise zitiert sie nicht aus dem Briefwechsel Adorno und Krenek (1974), 34f, sondern aus den Beständen des Archivs, was den Eindruck erweckt, man hätte ihr das Recht auf Einsicht in die erste Fassung verwehrt. – Im Kierkegaardbuch lässt sich tatsächlich nicht immer exakt bestimmen, ob Adorno über Kierkegaard oder Benjamin spricht. Alle Gebilde der Kunst und der Theorie haben als Ursprung einen Sinn, der zerfallen ist und der nur mit Begriffen erschlossen wird, die nicht ideal sind wie diejenigen in der Naturwissenschaft, sondern ebenso zerfallen wie der Sinn selbst. Wegen der Überbetonung des Gefühls – der Innerlichkeit – vernachlässigt Kierkegaard die Sprache überhaupt, also auch alles ästhetische; Benjamin gelangt ebensowenig zu einer halbwegs gesicherten Erkenntnisweise, weil er nicht übers Metaphorische, das den Sinn bildlich darstellt, hinauskommt. Tiedemanns Satz, an prominenter Stelle seiner Studien, scheint mir Benjamins Mangel, das Vertuschen der Spezifität der ästhetischen, geschichtsphilosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisformen auch mitzuverschleiern: „Was Baudelaire dichtete, hat (Benjamin) gedacht; was nur erst Bild war, mit dem Begriff eingeholt.“ (Tiedemann, 1973, 123) Denn macht nicht dies das problematische Verhältnis Adornos zu Benjamin aus, dass er dem letzteren vorwirft, zu wenig den Bezug der dialektischen Bilder konkret-strukturell auf die Wirklichkeit zu beachten, die sie produziert? Vgl. den berühmten Brief Adorno-Benjamin vom 2. 8. 1935, in Benjamin (1978), 672f. Auch der folgende, ebenso berühmte Satz aus der Negativen Dialektik ist gegen Benjamin gemünzt: „Nur Begriffe können vollbringen, was der Begriff verhindert.“ (Adorno, 1975, 62)

[5] Heuß (1927): „Frankfurt darf von sich rühmen, die am internationalsten fühlende oder doch geleitete Stadt in Deutschland zu sein.“ Diplomaten aus europäischen Ländern hielten Eröffnungsansprachen; für das Studium des „weitläufigen“ Teils der außereuropäischen Musik „brauche man Zeit“. Zweimal betont der Rezensent, „dass nur der das Recht hat, sich international zu nennen, der zuerst national ist“. Doflein (1927) schreibt: „Man hat gelernt, den eigenen Wert fremder Kulturen zu erkennen. (…) Der methodische Gedanke der Entwicklung, d. h. die Annahme einer einheitlichen Entwicklung als Form der Geschichtsbetrachtung, musste zurücktreten. (…) Das ausgestellte Instrumentarium fremder, besonders östlicher Völker spricht von eigenster, langer Geschichte und eigenster künstlerischer Identität. (…) Man (…) fühlte sich bereichert und belehrt, erschrak aber zugleich über die innere Katastrophe dieser unserer `Bildung'. Was weiß man nun alles! Aber was ist man selbst? Haben wir eigentlich noch `Kultur', Kultur wie jene, die wir hier systematisiert sahen (…)? Wo ist nun das Selbstverständliche, wo stehen wir, was ist unsere Stärke?“ (Hervorhebung vom Autor.) Schivelbusch (1985), 167f, listet einige Themen der Ausstellung auf: „Militärmusik, Jagd, Post, Goethe und die Musik, Evangelische Gesangbuchabteilung, Jazzorchester, Musikzimmer in einem Privathaus, Deutscher Arbeitersang, Balz, Sprechmaschinen, Der akustische Film, Mechanische Musik, Bauernstube, Geigenvorführraum, Rundfunk.“

[6] Adorno (1975), 148f und 409.

[7] Vgl. Adorno im Vorwort der Neuauflage 1966: „Soviel Unzulängliches an dem einst Geschriebenen ihn (sc. den Schreibenden, Adorno) später stört, es mag dafür auch Möglichkeiten enthalten, die er in seiner Entwicklung nicht einlöste und die ihm selber gar nicht offenbar sind.“ (2; 262)

[8] Vgl. Steinert (1989), 233.

[9] Zu Adornos theologisch-religiösen Mucken vgl. Wiggershaus (1986), 88.

[10] Natürlich richtet sich dieses Zitat gegen Bubner, Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos, in Lindner und Lüdke (1980). Er erwähnt zwar das Buch, zitiert aber nur eine Stelle, natürlich eine andere.

[11] Eine Auseinandersetzung mit Adornos verschiedenen Husserltexten enthält Hentschel (1992), eine etwas zögerliche Kommentierung der Dissertation und der beiden Habilitationsschriften findet sich bei Caspar (1980).

[12] Der Kantianer Cornelius hielt sehr viel von Kunst und Musik – doch hatten beide strikte außerhalb der Philosophie zu verbleiben und betrieben bzw. rezipiert und „theoretisiert“ zu werden. „Daneben (sc. neben der Chemie) trieb es mich zur Musik; seltsamerweise ohne dass ich jene Gabe besessen hätte, die man allgemein für die Vorbedingung erfolgreicher Betätigung auf diesem Gebiet hält – ich hatte von Natur kein musikalisches Gehör und der in meinem zehnten Jahr begonnene Klavierunterricht musste abgebrochen werden, weil ich niemals hörte, ob ich falsch spielte; konnte ich doch nicht einmal unterscheiden, ob jemand aufwärts oder abwärts sang.“ Er wurde dann trotzdem ein „sicher vom Blatt lesender Klavierspieler“, und er spielte auch „eine große Anzahl Blas- und Streichinstrumente“. Cornelius deutet diese Kunstsinnigkeit trotz mangelnder Begabung so, dass „das Gehör sich ebensogut entwickeln (lässt) wie die Sprache“. (Cornelius, 1923, 84; zu seiner erkenntnistheoretischen Position, ein Gemisch aus Kant und Husserl, vgl. p. 98) Ein Zitat zum bürgerlichen Pessimismus: „Wenn ich aber vorher von Kants theoretischer Philosophie sagen durfte, dass ein großer Teil unseres wissenschaftlichen Denkens auf Kants Lehren und Methode aufgebaut ist: so kann ich leider von der Wirkung seiner praktischen Philosophie nichts Ähnliches berichten. Wir sind heute von dieser und von ihrer Verwirklichung weiter als je entfernt: im Leben der Einzelnen, im Leben des Staates und im Leben der Menschheit. Wohl kennt jeder dem Namen nach Kants große Leistung auf diesem Gebiet besser als alle seine erkenntnistheoretischen Lehren, aber dieser Name des Kategorischen Imperativs ist der Menschheit zum leeren Schall geworden. (…) Wir werden nur dann wieder ein großes Volk werden, wenn wir nicht mehr den falschen Götzen des Mammons und der Eitelkeit dienen, sondern wahr und einfach nur durch den Imperativ der Pflicht unser Handeln bestimmen lassen jeden Augenblick unseres Lebens.“ (Cornelius, 1924, 11f)

[13] Zu Tillich in Frankfurt vgl. Wiggershaus (1986), 47, 61.

[14] Der Begriff der Gestaltqualitäten, den Adorno bereits in der ersten Habilitationsschrift zurückweist – aus dem philosophischen Erklärungsgrund wird die soziologische Rätselfrage – steht bei seinem Doktorvater H. C. unter der Devise: emotionslos geht sowieso nichts.

[15] Der Sinn des Psychischen wird stellenweise mit dem Begriff materieller Tatsachen gleichgesetzt, die zu eindeutig entweder richtigen oder falschen Aussagen führen (vgl. 230f, 247, 257, 273f).

[16] Gerade da, wo er den Zweck der Schrift in Erinnerung rufen will, zerstört er die Konzeption.

[17] Der Begriff ist ein Echo auf die sogenannte Stabilisierungsperiode in Deutschland auf Grund des Dawes-Planes 1924 gegen die wütende Inflation, die den American Way of Life sowie die Neue Sachlichkeit im Gefolge hatte. Wie Hermand und Trommler (1978) ausführen, wurde der Begriff nicht nur von Adorno musiksoziologisch angewandt: „Klaus Pringsheim sprach (…) 1926 in der `Weltbühne' von einer `pseudorevolutionären Stagnation' innerhalb der Musikentwicklung, die auf der `Stabilisierung' der `Halbheit' beruhe.“ (305) Im gleichen Jahr wie Adorno benutzte auch Eisler denselben Ausdruck. „Auf der gleichen Linie (wie Béla Balázs) liegt der Angriff Hanns Eislers gegen die `relative Stabilisierung in der Musik', den er am 3. Juli 1928 in der `Roten Fahne' vorbrachte … „ (121)

[18] Aber Adorno wird nie über dieses Schema hinauskommen.

[19] Im selben Jahr 1928 wurden die Liederzyklen op. 1 und op. 3 fertiggestellt.

[20] Vgl. Sulyok/Mezö (1978), XV. Der Autograph ist verschollen. Rexroth (1970) datiert 1886.

[21] Im Adorno Archiv existiert weder eine Bibliographie der Buch- noch eine der Partiturlektüre des jungen Adorno.

[22] Vgl. Foucault (1973), 272f: „Unter Episteme versteht man (…) die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Figuren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht werden (…).“

[23] Zur Publikationsmisere der Spätwerke Liszts durch den Freundeskreis Wagner-Liszt siehe Redepenning (1984), 166f und Dömling (1985), 231, mit einem Verweis auf die Tagebücher Cosima Wagners (publiziert erst 1976-77); Nagler (1980), 39, Anm. 94 betont umgekehrt Liszts freien Willen gegen eine Publikationsabsicht, Nestler (1961), 564 den Unwillen der Verleger.

[24] Für gänzlich Unmusikalische findet sich eine vorzügliche Beschreibung in Boulez (1989a), wo sich die Seiten 78 bis 83 mit Paul Klees Schachbrettbild „Rhythmisches“ auseinandersetzen; vgl. dazu AGS 12; 172 und 15; 246: „Wenn insgesamt, von ihrem inneren Bewegungsgesetz her, die Künste einander sich annähern, dann wäre wohl vorzuschlagen, man solle neue Musik so hören, wie man ein Bild als ganzes betrachtet, alle ihre Momente in eins setzen, eine Art Gleichzeitigkeit des Sukzessiven sich erwerben, anstatt bei jener Diskontinuität es zu belassen, zu welcher das Medium der Musik, die zeitliche Aufeinanderfolge, verlockt.“

[25] Cahn (1979), 231. Sekles wurde erst 1924 Direktor des Konservatoriums; ebd., p. 245f. Cahn zitiert p. 236 aus einem Schriftstück vom April 1922 des damaligen Wirtschaftsdezernenten der Stadt, das vielleicht auch erklärt, weshalb Adorno Privatunterricht genoss und nicht in die reguläre Kompositionsklasse eingeteilt war, der im übrigen der acht Jahre ältere Paul Hindemith bis 1917 als Schüler angehörte: „`Die einzelnen Lehrer (wollen) mit Rücksicht auf die schlechte Bezahlung möglichst wenig Stunden an der Anstalt (sc. am Konservatorium) geben, um möglichst viel freie Zeit für Privatstunden zu haben.“' – Zur Tatsache, dass der 17jährige bereits eine abgeschlossene Klavierkomposition vorzuzeigen hatte, vgl. Lonitz (1992), 8: „Das frühe Klavierstück (…) ist ein virtuoses Stück des siebzehnjährigen Adorno, dessen hinreißend unbekümmerter Schwung das meiste in den Schatten stellen dürfte, was unter dem Titel des schwungvollen Musizierens in den zwanziger Jahren Karriere machte.“ – In Cahn (1983), 216 wird ein Zeitungsartikel von 1924 angesprochen, der Theodor Wiesengrund-Adorno neben Hindemith, Sekles und drei anderen zu den erwähnenswerten Komponisten der Stadt Frankfurt zählt. Ebenda wird aus einer Konzertkritik vom 2. Mai 1923 zitiert, die ein Streichquartett des 21jährigen behandelt: „Ein Quartett von Theodor Wiesengrund-Adorno ist das Werk eines jungen Komponisten, das durch die Frische seiner Themen sympathisch wirkt – nur werden die Hoffnungen, die man an die Anfänge der einzelnen Sätze knüpft, in deren Verlauf einigermaßen enttäuscht. Ihr Antrieb verebbt zu bald…“ – Zur Schreibweise des Namens siehe unten die erste Anmerkung im Anhang.

[26] Konzertrezensionen der auch in Amerika geleisteten Auftritte der Mutter und der Tante, Zweitgenerationen-Immigrantinnen mit dem korsischen Namen Calvelli-Adorno (nichtsdestotrotz gebürtige Frankfurterinnen mit einer deutschen Mutter), die erste Sängerin, die zweite Pianistin, sollen dermaleinst der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden; nach Adornos Geburt wurden die beiden Musikerinnen im Frankfurter Gesellschaftsleben nur noch als Konzertbesucherinnen wahrgenommen.

[27] Siehe auch die Erinnerung in Amorbach, AGS 10,1; 306, wo das Kind gleichzeitig alle noch verbliebenen Saiten einer alten verstimmten Gitarre anreißt und bei den schauerlichen Klängen denkt: „so müsste man komponieren, wie diese Gitarre klingt“.

[28] Vgl. Lonitz (1992), 4 (Brief Adorno–Berg Anfang 1925); ähnlich Hilmar (1987), 108f (Brief Adorno–Berg 14. 5. 1928, worin Adornos op. 1 angekündigt wird, ein Liederzyklus, der diese technischen Probleme nunmehr bewältigt haben sollte – vgl. allerdings die inzwischen berühmt gewordene „Abfuhr“ Bergs an Adorno bereits am 28. 1. 1926 in AGS 19; 635). Adornos Brief vom 5. 2. 1925, in dem er sich bei Berg anmeldet, ist gemäß Steinert (1989), 196 Anm. 5 abgedruckt im Katalog Alban Berg, Österreichische Nationalbibliothek, Wien 1985, p. 172.

[29] Erstaunlich ist es trotzdem, welche Verbreitung der Debussismus ohne Debussy, ohne seine Gestaltungskraft, gefunden hatte, dem auch Sekles folgte: Zu James Joyces 50. Geburtstag vertonten 13 verschiedene Komponisten die 13 Gedichte von Pomes Penyeach, alle demselben Stil verpflichtet, folgerichtig heute größtenteils unbekannt (Moeran, Bax, Roussel, Hughes, Ireland, Sessions, Bliss, Howells, Antheil, Garducci, Goossens, Orr, Dieren). Es wurden folgende Stücke und Unterrichtsmaterialien von Sekles gesichtet (die Jahreszahlen beziehen sich aufs Druckjahr): Skizzen – 5 fantastische Stücke für Klavier op. 10 (o. J.), Passacaglia und Fuge für Streichquartett op. 23 (1914), Erste Suite für Klavier op. 34 (1928), Capriccio in 4 Sätzen für Klavier, Violine und Violoncello (1932), Musikalische Geduldspiele – Elementar-Schule der Improvisation (1931), Musikdiktat (o. J.). – Der Jude Sekles wurde 1933 von den Nazis abgesetzt, sein Sohn konnte sich der faschistischen Verfolgung durch Flucht nach Südamerika entziehen.

[30] Man sieht die bloß empirische Schwierigkeit auch in der Umkehrung des Gedankens: die negative Dialektik, die dieser Erfahrung durch Anstrengung entspringt, verliert aus zeitlicher Distanz alles Monströse, alles scheinbar Unauflösliche, das früher vielleicht der Person Adornos hilflos hat zugeschoben werden müssen. Ihre Vermittlung macht dies aber um nichts einfacher und – aber dies ist eine Trivialität – um nichts obsoleter. – Es sei hier noch festgehalten, dass der junge Adorno nie, und der späte nur ablehnend, in Erwägung zog, Musik könne völlig athematisch werden; die Schönbergsche Vorstellung von Variation, die die Dominanz eines Hauptthemas außer Kraft setzt und mit der Adorno es zu tun hatte, kommt dem aber der Sache nach (nicht dem Wortlaut nach) stetig näher.

[31] Die Idee des Werkevollendens ist der romantische Kern der antipodischen Kunstpraktiken des großen Werkes wie des Fragments.

[32] Ich möchte nochmals den Aufsatz von Hilmar erwähnen, wo zusammengestellt ist, was von Adorno selbst und auch in explizitem Bezug auf ihn im Berg Archiv vorliegt. Von Berg gibt es Analysen, die in einem Zusammenhang von Text- oder Musikstücken Adornos geschrieben wurden – von Adorno gibt es nur Briefe oder Schriftstücke, wie sie unten in Kapitel 2 ausführlich zur Sprache kommen. – Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass es keine Harmonielehreanalysen Adornos gibt, weder im Adorno Archiv, im Sekles Nachlas noch im Paul Hindemith Institut.

[33] Dem steht hinwiederum die Tatsache entgegen, dass Adorno noch vor 1924 bei Moritz Bauer eine Dissertation in Musikwissenschaft schreiben sollte, weil ihm ein Referat des Studenten über die Lieder Ludwig Senfls offenbar gut gefiel, Adorno aber diesem verstaubten Themenkreis sich nicht zu opfern gedenkte und folglich bei Cornelius über Husserl promovierte. Dazu Stephan (1969), 269. – Das Studium Adornos ist nicht leicht darzustellen: er studierte lange bei Sekles, dessen Lehrtätigkeit von Berg abgelöst wurde; er studierte aber auch bei Moritz Bauer, der am Hoch'schen Konservatorium unterrichtete, sich aber 1914 an der Frankfurter Universität habilitierte, wo er nach dem Krieg das musikwissenschaftliche Seminar aufbaute, ohne die Tätigkeit am Konservatorium ganz aufzugeben (einen Nachruf zu Moritz Bauer schrieb Szimichovski 1933, dessen informative Momente in Musik in Geschichte und Gegenwart, MGG, abgedruckt sind). Die ernsthaften Berufsabsichten Adornos waren somit breit gestreut: er wollte Komponist werden (was ich hier stark betone), Musikwissenschafter, Philosoph – und Peter v. Haselberg meint (Gespräch Frankfurt 1. 2. 1992), man dürfe auch nicht vergessen, dass Adorno ein außerordentlich virtuoser Pianist war und nicht ohne diesbezügliche Karrieregedanken nach Wien neben Berg zu Steuermann ging.

[34] Das in Anmerkung erwähnte op. 1, geschrieben 1925 - 1928, sieht komplizierter aus als Werke des späten Liszt, wie eines unten präsentiert wird; das Komplizierte entsteht aber durch die Dominanz des Ausdrucks. Deshalb kann man nicht ohne weiteres sagen, Adorno hätte gemäß den Forderungen des historischen Materials komponiert, und er hätte in den Kompositionen gezeigt, dass er begriffen hat, was Neues in der Musik er hat analysieren müssen. Denn ungebundene Ausdruckshaftigkeit überdeckt nur zu leicht konservative oder schlecht komponierte Kompromisse in der Konstruktion. – Umgekehrt ist das Werk im Vergleich mit der Neudeutschen Komponierrichtung nicht wenig der Zeit voraus und enthält die Erfahrung des Neuen bereits stark vermittelt, ablesbar gerade in der bemängelten Verwischung aller Spuren von herkömmlicher Konstruktivität. Es scheint, als könnte man anhand von op. 1 behaupten, dass ab 1925, also unter der Obhut Alban Bergs, im Komponieren sich anbahnt, was nur wenige Jahre später im begrifflichen Denken clare et distincte hervorbricht. Vielleicht war Adorno im Komponieren tatsächlich avanciert; aber er war dies nur innerhalb seiner individuellen Fähigkeiten, die im Bereich der begrifflichen Artikulation entschieden größer waren.

[35] An dieser Stelle verwendet der alte Adorno im Text Anweisungen zum Hören neuer Musik das Kinderlied „Hänschen klein“ (15; 193).

[36] Natürlich ist es eine Provokation, die Boulezsche bzw. Deleuzsche Begrifflichkeit hier an diesem archaischen Ort einzusetzen; sie ist Thema des Kapitels 3, auf explizite Weise im Abschnitt 3.4.

[37] Im Radiovortrag Klassik, Romantik, Neue Musik heißt es, nach einer Problematisierung der Anwendung literarischer Stil- und Epochenkategorien auf die Musik: „Dass die sechs Haydn gewidmeten Quartette Mozarts einen – der Entfaltung durchaus noch bedürftigen – Charakter von Klassizität haben, ist ebenso unleugbar wie die spezifische Verwandtschaft großer Werke Schumanns, der Klavierphantasie, der Kreisleriana, des Liederkreises nach Gedichten von Eichendorff, mit der Idee der literarischen Romantik aus der Epoche unmittelbar vorher. Der Begriff der Klassizität wäre auf Mozart unbefangener sogar anzuwenden als auf die Literatur, auf Goethe oder Alfieri, weil ihm das aus Bildung Abgeleitete, die programmatische Rückbeziehung auf die Antike abgeht, welche den literarischen Klassizismus beherrscht; Mozarts Klassizität ist um so wörtlicher zu nehmen, je weniger sie als solche sich selber reflektierend setzt.“ (16; 130) In der Neusendung am 16. 6. 1993 wurde als erstes von zwölf (unkommentierten) Beispielen der hier besprochene erste Satz aus Mozarts Jagdquartett gespielt.

[38] Man sieht schon in dieser Banalität, woraus Adornos methodische Intention der physiognomischen Deutung entspringt. Die Formen des Stücks verweisen offenbar auf etwas Gesellschaftlich-Kodifiziertes – die lustige Jagd der vornehmen Leute – das durch ausschließliche Analyse der Formen selbst nicht erreicht wird, weshalb auch der Formverlauf der Beachtung des in der Form Gestalteten bedarf; umgekehrt spricht man noch nicht sachlich über Musik, wenn hermeneutisch fahrlässig bloß die Elemente erwähnt werden, die die Intention des dem Quartett zugefügten Titels ausmachen könnten; vgl. Döpke (1987), 37f. – Dass man von diesem Mozartstück keine eigentliche physiognomische Deutung machen kann bzw. muss, liegt daran, dass die bloße Beschreibung von Signalen – Jagdsignalen – schon ihre Deutung sind. Musikalische Physiognomik setzt eine gewisse Komplexität und Widersprüchlichkeit im Formalen voraus, die bei Mozart noch nicht gegeben ist.

[39] Insbesondere geriete die Musikstunde schnell zum Abschnitt über „Durchführung“, der nur zu glücken vermöchte, wenn die Durchführungspassagen mehrerer Stücke miteinander verglichen würden, um so das Einfache derselben sich klar zu machen. Für die Fortgeschrittenen sei festgehalten, dass in ihnen die Motive und Momente der Themen in der Weise vermittelt werden, dass sie, obwohl in ihrer Form identisch belassen, möglichst weit durch den Bereich der Tonarten moduliert werden, um einer Reprise als der nunmehr geläuterten Wiederaufnahme des Anfangs Platz zu machen.

[40] Diese Aussage macht genauso viel Sinn wie die, dass die bzw. eine Liebe wirklicher und wahrer als die Philosophie ist, schöner und im metaphysischen Sinn mindestens so gut, d. h. ebenso sehr über den Tod hinausweisend. „Michella Plurabelle / tell all oh / tell me all / I want to know. // Never show all of them / what I want / shall never all of you / all of them.“ Trotzdem lässt sich auch unter Wahrung des gegebenen propädeutischen Rahmens der angesprochene Weg zum Ziel noch folgsamer formulieren (folgsamer als die letzte Anmerkung, folgsamer als die letzten Zeilen): Die klassische Musik hat ihre Größe daran, dass sie nicht nur in statischen Blöcken reine, leicht identifizierbare Themen als womögliche schöne Melodien präsentiert; die Einheitlichkeit wird geradezu verstärkt, wenn ihnen dynamische Abschnitte (Boulez, 1972, 73), das sind terminologisch die Durchführungen, hinzugeführt werden, in denen die Motive als Identische, d. h. als Bruchstücke der Themen durch den harmonischen Raum, moduliert durch verschiedene Tonarten, eben durchgeführt werden. Die Größe der modernen Musik besteht dann darin, diese bürokratische Ordnung in Bewegung zu versetzen, ohne dass ein Chaos entstehen müsste.

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