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Inhalt

Elliott Carter,

Collected Essays and Lectures, 1937-1995,

edited by Jonathan W. Bernard

[der die entscheidende Varèse-Deutung geleistet hat und von dem auch ein Buch über Music Theory in Concept and Practice herausgegeben wurde, mit Baker und Beach, dessen Lektüre aber die Berner Bibliothek bis anhin nicht möglich machen will],

New York 1997

 

Wer die Musik Elliott Carters nur schlecht kennt, bekommt durch die 59 Texte ein recht gutes Bild dieses amerikanischen Komponisten, dessen Werk in der Freundschaft mit Boulez seit Anfang der Sechzigerjahre einen mächtigen Verbündeten gefunden hat, also nur mit Strafe mehr ignoriert werden kann. Und zu erfahren ist einiges von dem 1908 in New York Geborenen, der nach sechs Jahren Musikstudium an der Harvard University (inklusive Griechisch, Mathematik und Philosophie, Whiteheadischer) drei Jahre in Paris bei Nadia Boulanger verbringt, nach welcher Zeit er, wie ungern auch immer, etwas mehr als drei Jahre als Musikredaktor und Kritiker sein Brot verdient (der Unternehmervater stellte die Zahlungen ein, die schon während der Pariser Zeit, wo Boulanger nicht besonders zurückhaltend abkassierte, mit Kopistenarbeit ergänzt werden mussten), worauf er endlich professionell als Kompositionslehrer tätig werden konnte, während des Krieges zusätzlich verpflichtet als Music Consultant to the Office of War Information (aber darüber gibt kein Text Auskunft). Hätte Adorno gewusst, wie Nadia Boulanger, gemäß einem hier wiedergegebenen Zeugnis Aaron Coplands, schon in den Zwanzigerjahren Bergs Wozzeck studierte, wäre seine Ausfälligkeit ihr gegenüber in der Einleitung der Philosophie der neuen Musik etwas zurückhaltender geraten und man studierte diesen Komponisten heute nicht als eben einen der "quicken Zöglinge der pädagogischen Statthalterin Strawinskys". Aber auch so macht Carter keinen schlechten Eindruck. Denn es lässt sich an diesen Textstücken eben gut einsehen, wie Komponisten nicht immer aus einem einzigen Guss entstanden ihr Werk in Szene setzen, sondern zuweilen dank der kritischen Lernfähigkeit ein dichtes, gehaltvolles Werk erst mit der Zeit zu realisieren beginnen.

Aber dieses Werk selbst ist doch recht unbekannt. Carters Musik in der Schweiz kennen zu lernen scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Das Radio zog sich vor Jahren schon auf die Sichtweise der Engstirnigen zurück, nach welchen es genügt, schöne Melodienausschnitte auf dem Feld der Klassik und der Romantik rauf- und runterzududeln, unterbrochen von einem Wochenabend, der Randbezirken zu widmen ist, also dem Jazz; von Konzertveranstaltungen wurde schon lange nichts mehr vernommen oder dann werden Eintritte verlangt, die einen außerordentlichen Mäzenatenzuschuss voraussetzen; die Bibliothek schließlich, die eine erstaunlich gewissenhaft umfassende CD-Sammlung organisierte, stoppt seit April 01 die Ausleihe und mutiert zum Dealer der heißen Ware: mindestens eine CD muss pro Jahr käuflich erworben werden, selbstredend ohne dass dieselbe länger als ein Monat beim Käufer gespielt werden dürfte. Wie dankbar ist man doch der Direktion der Berner Universitätsbibliothek, die den Fernleiheverkehr einstellte, dass immerhin die bibliothekseigenen Dokumente fürderhin noch ausgeliehen werden dürfen (wie hinterherhinkend auch in einzelnen Fällen: Fernand Ouelletts Varèse-Biographie aus dem Jahr 1966 wird 1995 angeschafft, nicht etwa in der zwischenzeitlich herausgebrachten Neuauflage, aber immerhin).

 

Das Bild gewinnt an Schärfe, wenn folgendes Buch dazugelesen wird, das in einem wundersam schönen Stil und in beispielhaft klarer Form den Anspruch verfolgt, zwar von sämtlichen Werken auf begriffliche Weise und mit vielen Notenbeispielen mehr als nur einen blassen Eindruck zu hinterlassen, trotzdem dieselben nicht bis ins letzte, wie oft doch immer nur zermürbende statt erhellende Detail analysiert:

David Schiff,

The Music of Elliott Carter,

London 1998 (New Edition)

 

Was für ein langes Frühwerk zeigt sich da! Und wie schwankt es bis zum Fünfzigjährigen noch zwischen der Biederkeit Coplands (der übrigens nicht wenig gegen Carter intrigiert hat) und der Kauzigkeit Ives' (für den Carter recht viel unternommen hat, nicht zuletzt in Europa), zwischen dem aggressiven Antischönbergianismus der Boulanger und einem von Carter kaum je recht durchschauten Varèsianismus (sein Text über denselben im oben angegebenen Band ist halt so das, was man an allen Straßenecken zu hören bekommt). Dank seiner Sprachbegabung konnte Carter sich des längeren an verschiedenen Orten in Europa aufhalten. Das machte den Schmerz und die Schmach erträglicher, in Amerika nur sehr selten aufgeführt zu werden (und wie er noch unlängst als Harvard-Komponist dargestellt wird, in einem Zug mit Bernstein, ist ja einigermaßen jämmerlich: Howard Pollack, Harvard Composers - Walter Piston and His Students, from Elliott Carter to Frederic Rzewski, Metuchen & London 1992). Spätestens seit den Sechzigerjahren werden die Kompositionen Stück für Stück interessanter, ohne aber je ganz zur seriellen Ästhetik gezählt werden zu wollen. (N.B. Noch der jugendliche Neunziger schreibt eine Oper mit dem frechen Titel What's Next?) Die realisierte Ästhetik in den Werken unterscheidet sich offenbar von der expliziten diskursiven: alte Weggefährten wie Copland, Ives, Boulanger brauchen nicht in ihrer Bedeutung herabgesetzt zu werden. Dieser Widerspruch, den der Schöpfer freudig bekräftigen darf, weil es in seinem Leben gründet, ist eine Provokation, der das Publikum sich zu stellen hat. Werden die Verantwortlichen in den Bibliotheken, Radiostationen und bei den Konzertveranstaltern auch in betriebswirtdevoter Untertänigkeit weiterhin streiken: das Buch von Schiff ist ein großer Schritt in die wünschenswerte Richtung.