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ur am 25. Februar 2006 um 20.51 Uhr: Albin Brun

Nach Wolfang Rihms Streichquartetten 7 bis 9, nicht gerade die glänzendsten Perlen dieses wunderbaren & wundersamen Komponisten, Pierre Boulez' Livre pour cordes (das ich deswegen so lange nicht mehr hörte, weil ich es nur auf Schallplatte habe, solche einarmig aus den Regalen zu nehmen und aufzulegen aber oft zu schwierig scheint) und Edvard Griegs Peer Gynt Suiten mit Neeme Järvi, der offenbar nur dirigieren will, was wie für ihn komponiert wäre (Grieg tönt hier schon wie Prokovief), als Erlösung endlich für die Ohren und den Tag: Pilatus wiedergehört. In dieser guten Zeit musste ich mehrmals an eine Briefstelle Walter Benjamins denken, am Nachmittag gelesen, wo der musikalisch und musikgeschichtlich Unbedarfte spontan an Adornos Wagnerbuch erkannte, der im Buchtitel Genannte hätte nicht zu des Autors von den Müttern sorgsam arrangierten frühkindlichen Erfahrungsplätzen gehört - Adorno bestätigte einen Monat später, seine Beschäftigung mit Wagner sei auf Anraten Alban Bergs geschehen. Der Pilatus gehört in den meisten äusseren Gratpartien wie auch inwendig mit dem Mondmilchloch zu meinen tieferen Kindheitserfahrungen, mit Pennen im Herbst nach dem Alpabzug in allen Hütten: Denneten, wo ich einem Ski durch die Latten beim Anziehen einen Laufpass gab, den tiefverschneiten steilen Hang hinab und in den schwarzen Wald hinein, Fräckmünt mit dem allerschönsten paradiesischen Meisibach, Schy, Märeschlag, Birchbode - ha! wie winzig aber würzig die Schweinsplätzli aus der Silberfolie gebraten kamen... Das drängt mit rettender Lust, über Pilatus nur Gutes zu sagen.



Zusätze: Ein Zusatz

Am Sonntag, 26. Februar 2006 um 10.15 Uhr schrieb Walter Benjamin: 19. 6. 1938

10, rue Dombasle Paris, XVe



Die Sache selbst … ist von großem Reichtum und von erstaunlichster Transparenz. Die ungünstigen Vorbedingungen, die ich als der Materie so unkundiger Leser Ihrem Essai entgegenbringe, sind ein ausgezeichneter Prüfstein für ihn. …

Sie haben, soweit mein Überblick reicht, bisher nichts geschrieben, was von gleicher physiognomischer Prägnanz wäre. Ihr Wagnerporträt ist an Haupt und Gliedern absolut überzeugend. Wie Gesinnung und Gestus bei ihm aufeinander abgestellt sind, das haben Sie meisterhaft festgehalten.

… Was die Hauptsache angeht, so hat mich besonders gefes¬selt, mit welchem Nachdruck Sie die spezifische »Formlosigkeit« zur Geltung bringen, die offenbar Wagners Werk durchzieht. Der Terminus »geleitende Musik« … ist ein Fund. Ähnlich aufschlußreich ist für mich Ihr Hinweis auf die Abschattungen gewesen, mit denen wagnersche Figuren, wie Wotan und Siegfried, ineinander übergehen. Kurz, es gibt für mich keinen Zweifel, daß die einzelnen Elemente der Wagnerkritik aus einer Gesamtkon¬zeption stammen, die ihre überzeugende Kraft der authenti¬schen geschichtlichen Signatur Ihrer Reflexion verdankt.

Und dennoch ist die Frage, die gelegentlich eines Terras¬sengespräches in Ospedaletti ihr Geisterdasein zwischen uns etablierte, von Ihnen nicht zu ewiger Ruhe bestattet worden. Erlauben Sie mir, fragend meinerseits das Gedächtnis dieser Frage heraufzurufen. Ist es Ihren frühesten Erfahrungen mit Wagner gegeben, sich ganz in Ihrer Einsicht in das Werk zuhause zu fühlen? Ich möchte von einem Rasenplatze sprechen und jemanden vorstellen, der, durch die Spiele der frühen Kindheit mit ihm vertraut, unvermutet und in dem Augenblick auf ihm sich wiederfände, wo er der Schauplatz eines Pistolenduells geworden ist, zu dem er sich von einem Gegner gefordert sähe. Spannungen, wie sie solcher Sachlage eigen wären, scheinen mir im »Wagner« zu überdauern. Sollten nicht eben sie es sein, die das Gelingen der »Rettung« – um sie hat sich das gedachte Gespräch bewegt – in Frage stellen? Sie haben die Motive, in denen solche Rettung sich ankündigen könnte, deutlich und behutsam zugleich zur Geltung ge¬bracht. Die schönste Formulierung Ihrer Arbeit vom goldenen Nichts und vom silbernen Wart ein Weilchen schwebt mir hier vor. Es ist gewiß nicht die Präzision der materialistischen Dechiffrierung Wagners, die solche Stellen um ihre Resonanz brächten. Sie haben aber diese Resonanz nicht in ganzer Fülle. Warum? Irre ich mich, wenn ich antworte: weil sie Ihrer Kon¬zeption nicht an der Wiege gesungen wurden? Einem Werk wie dem »Wagner« fehlt es an Schluchten und Grotten nicht, aus denen die gedachten Motive mit dem Echo zurückkehren könnten. Warum tun sie es nicht? Warum heben sich die schönen Stellen, an denen sie anklingen … ebensosehr durch ihre Isoliertheit heraus wie durch ihre Schönheit?

Entschließe ich mich zu einer kurzen Formulierung, so sage ich: die Grundkonzeption des Wagner, die weiß Gott nicht von schlechten Eltern ist, ist eine polemische. … In dieser Konzeption scheinen mir auch, und gerade, Ihre energi¬schen musiktechnischen Analysen ihren Ort zu haben. Eine polemische Befassung mit Wagner schließt in keiner Weise die Durchleuchtung der progressiven Elemente seines Werkes, die Sie vornehmen, aus, zumal wenn diese sich von den regressiven sowenig wie die Schafe von den Böcken scheiden lassen.

Wohl aber – und hier, lieber Teddie, dürften Sie mich mit Leib und Seele bei Ihrem Lieblings- und Indianerspiel, dem Ausgraben des Kriegsbeils, überraschen – erweist sich die geschichtsphilosophische Perspektive der Rettung, wie mir scheinen will, mit der kritischen der Pro- und Regressionen als unvereinbar. Genauer – als vereinbar nur in bestimmten philosophischen Zusammenhängen, über die wir uns gelegentlich sub vocem »Fortschritt« unterhalten haben. Der umstandslose Gebrauch der Kategorien des Progressiven und des Regressiven, denen in den zentralen Teilen Ihrer Schrift ihr Recht zu beschneiden ich der letzte wäre, macht die Ansätze zu einer Rettung Wagners (auf der zu bestehen – zumal nach der Lektüre Ihrer Schrift mit ihren vernichtenden Analysen – derzeit wiederum ich der letzte wäre) überaus problematisch.

Sie sind gewiß nicht willens, mir zu widersprechen wenn ich sage, daß die Rettung als philosophische Tendenz eine schriftstellerische Form bedingt, die – um es unbeholfen zu sagen (weil ich es besser nicht formulieren kann) – mit der musikalischen besondere Verwandtschaft hat. Die Rettung ist eine zyklische Form, die polemische eine progressive. Mir stellen sich die zehn Kapitel des Wagner eher als eine Progres¬sion denn als ein Zyklus dar. Es ist dieser Zusammenhang, in dem die gesellschaftskritischen und die technischen Untersu¬chungen souverain zur Entfaltung kommen; dieser Zusammenhang aber auch, der anderen alten und bedeutenden Motiven Ihrer Musiktheorie – der Oper als Trost, der Musik als Einspruch – Abbruch tut; der das Motiv der Ewigkeit im Funktionszusammenhang mit der Phantasmagorie dingfest macht und an seiner Verwandtschaft mit dem des Glücks vorübergehen muß.

Das alles, wie gesagt, zeichnete sich wohl als Frage in einem unserer letzten Gespräche ab. … Das Bestimmende in der Rettung – nicht wahr? – ist niemals ein Progressives; es kann dem Regressiven so ähnlich sehen wie das Ziel, das bei Karl Kraus Ursprung heißt.

Gretel Adorno, Walter Benjamin, Briefwechsel 1930-1940, hrsg. von Ch. Gödde und H. Lonitz, Frankfurt 2005, Seiten 318-321 (ein paar Briefe wie dieser sind an Theodor Adorno gerichtet)






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