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ur am 24. Maerz 2006 um 16.00 Uhr: Pelléas et Mélisande

Mit Pelléas et Mélisande wurde ich erst nach dem Gesamtwerk von Claude Debussy bekannt, Anfang der neunziger Jahre, als noch Geld da war und dieses eher jugendliche Chef d'Oeuvre 100 Jahre alt zu werden begann (UA von Maetrlincks Theaterstück 1893, Debussy's Oper 1902). Das waren die drei CDs mit Pierre Boulez, London (Studio) 1970. Das Werk blieb versperrt und unzugänglich, weil es als zu prosaisch und konturenlos weit hinter den andern zurückzustehen schien. 2005 machte die DVD mit Peter Stein (Regie) und Pierre Boulez (Dir.) aus Cardiff 1992 den direkten Anschluss an die doppelte Rezeption von Wagners Ring des Nibelungen (einmal Boulez, dann Zagrosek). War das zum Erstaunen schauderhaft! Statt ein Absetzen von Wagner vernahm ich nur Wagner, reinsten Wagner contre coeur, und der Kitsch der Waliser Inszenierung liess mir Sehen und Hören vergehen. Kein Must war's, nur reiner Mist! - In den letzten Tagen war auch die DVD mit Pierre Strosser (Regie) und John Eliot Gardiner (Dir.) aus Lyon 1987 ausleihbar. Eine neue Welt tut sich auf, vergessen die Rancune nun gegen das grosse Werk einstens. Man muss dieser Oper begegnen wie einem Text im Alltag, und die Strosser-Inszenierung hilft einem dabei nicht unwesentlich. Ganz im Gegensatz zur späteren aus Wales wird auf jeden Realismus verzichtet, so dass alle Gegebenheiten wie ein Wald, ein Schloss, ein Turmfenster, ein Teich, eine Grotte, eine Schafherde von den Zuschauenden selbst halluziniert werden müssen. Langweiliger könnte man es nicht machen - und gerade diese Art des Zeigens gibt dem musikalischen Werk seine ihm eigene Dichte zurück. Man liest nun in einem mehr oder weniger zügigen Strom mit der reduzierten, aber angespannten Erwartung, dass es nur einzelne Sätze, Passagen oder Momente sind, wo das Werk seine Zündungen loslässt. Auf einmal wirkt musikalisch jede winzige Abschattierung wie ein eigenes Feuerwerk, und man freut sich ob der supplementär aufgestockten Länge: sogar der letzte Akt, der einem äusserlich wie eine Sterbestation eines nicht mehr ganz modernen Spitals erscheinen mag, fesselt, weil er mit viel musikalischem Leben gesättigt scheint. Am anderen Tag nochmals die alte CD-Version von Boulez hervorgeholt: tatsächlich, man braucht überhaupt keine Inszenierung, wenn nur einem die gesungenen Texte nicht ganz vom Geschehen her fremd sind und man an ihnen selbst die Phantasien ziehen lassen kann.

Nach der Lektüre der Texte von Boulez über Debussy wieder Jeux gehört, die erste Musik, die ich als Pubertierender in Luzern in Szene gesetzt schauen durfte. Ah, wie sind da die Kräfte entfesselt, und wie ist das avanciert komponiert! Die grosse Zeit, die zu geniessen man in Pelléas et Mélisande erst lernen muss, ist hier auf 17 Minuten zusammengepresst; ungeheuerlich schier, was da alles passiert und wie die Post abgeht.

Auch Schönberg komponierte Pelléas und Mélisande, als Symphonische Dichtung für Orchester, Opus 5, mit der Uraufführung 1905. Diese Musik hört man weniger als Text denn als fast schon durchgängige thematische Arbeit mit thematischem Material im Überfluss, schön schroff in der Konturierung und mit präzisen Belichtungen in der ungestümen Subjektivität. Kein aufgesetzter Realismus wie vom Fuss der Cambrian Mountains macht sich da lächerlich; hier ist er wahrhaftig wie mitten aus dem Wallis. In jedem der vielen Formübergänge spürt man, wie diese Musik nicht ihre Herkunft von Wagner zu vertuschen braucht, weil sie in desto beeindruckenderer Weise klarzustellen vermag, wie sie von ihm wegkommen wird.

Noch am selben Abend zum wiederholten Mal Alban Bergs Wozzeck mit Adolf Dresen (Regie) und Claudio Abbado (Dir.) aus Wien 1987. Die Musik hat in den verflossenen Zeiten einen Reichtum angehäuft, dass man sich nicht zu verwundern braucht, wenn einer sagt, er könnte sich ein Leben lang mit ihr beschäftigen. Erstaunlich aber auch hier, wie Adornos Charakterisierungen ins Zentrum stossen: Eine humanistischere Musik lässt sich nicht träumen. Beide Ästhetiken haben gegenüber dem Lauf der Geschichte gleichwie versagt, die realistisch-aufklärerische von Berg und die gesellschaftlich abstinente von Debussy; auf beide greift man mit ungehemmter Spontaneität zurück, wenn man in der stickigen Kinderzimmerluft der aktuellsten Musik von derjenigen aus der Zukunft erzählen will.






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